Im besetzten Teil Frankreichs wurden zahlreiche Juden verhaftet, insbesondere diejenigen, die der tschechischen oder polnischen Legion angehört haben. Jüdische Geschäfte haben Kommissäre erhalten. Die beiden jüdischen Kinderheime der «Ose» in St. Denis und Tournelle wurden geschlossen. Aus Paris wird andererseits gemeldet, daß Cafés, die den Zutritt von Juden verbieten, zwar von den Deutschen besucht werden, nicht aber von der eigentlich französischen Bevölkerung. Obwohl von der Regierung in Vichy immer wieder behauptet wird, daß sie keineswegs antisemitisch sei, erläßt sie doch Verordnungen, die das Gegenteil darzulegen geeignet sind. So hat sie das Gesetz aufgehoben, wonach Angriffe auf die jüdische Religion früher verboten waren. Der neue Gesandte in den Vereinigten Staaten, Gaston Henri-Haye, erklärte, das Gesetz sei nur aufgehoben worden, um die Gleichberechtigung wieder herzustellen, da die Juden durch dieses Gesetz privilegiert worden seien! Die Lage der jüdischen Flüchtlinge in Marseille ist sehr schwer. Die meisten von ihnen hatten ihre Pässe bei den Gesandtschaften in Paris abgegeben, um das Ausreisevisum zu erhalten. Sie können aber mit Paris nicht korrespondieren und die nötigen Dokumente nicht erhalten. Etwa 5.000 Juden aus Belgien und dem Elsaß wurden interniert und in die Lager von Gours und St. Cyprien gebracht. Die Verhältnisse
sind skandalös. Die amerikanische Presse hat schon vor einiger Zeit hierüber Einzelheiten gebracht. Am 7. September waren hier 2.945 Personen interniert. Die Baracken sind offen, es gibt keine Fußböden und keine Möbel. Die Schlafstätten befinden sich auf Sand, und wenn man Glück hat, auf etwas Stroh. Teller, Löffel oder Gläser gibt es nicht, an deren Stelle treten Konservendosen. Innerhalb zweier Wochen hatten 85 Prozent die Ruhrkrankheit. Seife fehlt vollständig, Trinkwasser bekommt man nicht. Der Bericht der Lagerärzte verlangt sofortige Hilfsmaßnahmen vom Auslande her, und die Versetzung in ein anderes Lager, wenn nicht alle Lagerinsassen umkommen sollen. […]
Seit Beginn dieses Jahres haben 12.000 Juden Deutschland verlassen. Jetzt sind noch etwa 300.000 Juden in Deutschland. […]
(an der spanisch-französischen Grenze bei Perpignan)
Ueber dieses Lager hat die Weltpresse nach dem Ausgang des Bruderkampfes im benachbarten Spanien und nachdem Zehntausende spanischer Soldaten über das Pyrenäengebirge nach Südfrankreich geflüchtet waren, spaltenlange Berichte in der Presse der Welt über unser Lager gebracht. Noch ist unser Lager die ungeheuerliche Sandwüste mit ihren fast täglichen Sandstürmen, die einen Aufenthalt im Freien fast unmöglich machen, noch immer besteht das alte Uebel, das unter den spanischen Soldaten so verheerend gewirkt hat und so viele Menschenopfer gekostet; ein Typhus- und Malariaherd und andere Menschenleben gefährdende Seuchen, die unsere jüdischen und französischen Aerzte mit übermenschlicher Anstrengung zu bekämpfen sich bemühen. Auch eine ungeheure Ungezieferplage peinigt die gefangengehaltenen Menschen, Tag und Nacht ihnen jeden Schlaf raubend. Die aus dünnem Holze und Dachpappe hergestellten Baracken, die als Lager und Wohnort für Menschen dienen, die, verzehrt von der Sorge um ihre und ihrer Familie Zukunft ein trostloses Dasein führen, sind für Menschen unwürdig. Als am 10. Mai 1940 auch Belgien Kriegsgebiet wurde — sind tausende Emigranten, Juden und Nichtjuden — die in Belgien eine sichere Zukunft gefunden zu haben glaubten — nach einer sehr gefährlichen Fahrt, wobei es 26 Tote und zahlreiche Verletzte gegeben hat. — nach dem Lager von Saint Cyprien bei Perpignan gebracht worden.
Eine große Zahl geistiger Führer, Rabbiner und weltberühmte Männer des Geistes in angesehener Stellung in Brüssel und Antwerpen haben diesem traurigen Zug angehört. Rabbiner Leo Ansbacher von der Synagoge de la rue du Couteau in Bruxelles, Rabbiner Dr. Rosenwasser von der Synagoge de la rue de Bordeaux, Bruxelles, sowie Rabbiner Weiß, Neumann und Hermann aus Antwerpen.
Die geistigen Führer bemühen sich, mit Aufbietung aller Kraft die gefangenen Menschen zu trösten und aufzurichten. Ihre erste Tat war, ein Zentrum zu schaffen, in dem die Menschen Trost und Aufrichtung finden; eine unbenutzte Baracke ist zum Gotteshause geweiht worden. Morgens und abends findet Gottesdienst statt, der besonders am Sabbat überfüllt ist. Dank dem neuerlichen Entgegenkommen der französischen Behörden konnte bald eine rituelle Küche eingerichtet werden, die vielen Menschen fleischlose Speise mittags und abends darreicht. Täglich finden jüdische Lehrvorträge statt sowie Vorträge profaner Natur, gehalten von im Lager festgehaltenen weltberühmten Universitätsprofessoren, so zum Beispiel von dem bekannten Physiker und Ordinarius der Berliner Universität Prof. Dr. Pringsheim, dem Schwager von Thomas Mann.
Für das leibliche Wohl der Zivilgefangenen wird dank dem verständnisvollen Verhalten der französischen Behörden ausreichend gesorgt; unhaltbar dagegen ist die Lage unserer vielen Kranken, weder die notwendigsten Medikamente noch geeignete luftige Räume noch Verbandstoffe stehen zur Verfügung.
Worunter die jüdischen Menschen hier besonders leiden, ist die allgemeine geistige Not. Es gibt keine Gebetbücher, keine Bibel, überhaupt keine Bücher jüdischen Inhalts. Auch Zeitungen, namentlich jüdische, werden sehr vermißt.
Was die gefangenen Menschen hier täglich und stündlich beschäftigt, ist die schwere Sorge um ihre Zukunft. In dem allgemeinen Zusammenbruch nach dem 10. Mai 1940 und dem großen Durcheinander sind zahllose Menschen, beinahe 5.000, nach hier gebracht worden. Sehr viele von den belgischen Emigranten hatten sich seit 1933 eine neue, schöne Existenz erringen können, die sie und ihre Familie gut ernährte, besonders viel Akademiker, Aerzte, Rechtsanwälte u. a., die an Industrieunternehmen in Belgien beteiligt waren und jetzt durch ihre Internierung alles verloren haben.
Täglich gehen von hier erschütternde Hilferufe an die große neutrale Welt, Joint, Hicem, mit der Bitte, uns aus dem großen Gefahrenherd zu befreien. Vergebens waren bisher alle SOS-Rufe, der Herbst, ja der Winter steht vor der Tür, und keine Aussicht ist vorhanden, die uns Hilfe bringt. Vielleicht dienen diese Zeilen dazu, die großen Wohlfahrtsinstitutionen auf unsere Lage aufmerksam zu machen, damit die vielen Todesopfer, die wir zu unserem Schmerze bereits dem Lager und dem mörderischen Klima gebracht haben, nicht vergebens seien.
R. b. Rm.
Wie naturgemäß alle Hilfskomitees im nichtbesetzten Frankreich, in Marseille, in Toulouse und in Nice, hat die Fraternelle Israélite in Clermont-Ferrand, die sich mit der Betreuung deutscher Emigranten befaßt, ihre Aktivität in den letzten Monaten bedeutend erhöhen müssen. Aus allen Teilen Frankreichs, die von deutschen Truppen besetzt wurden, flüchteten sie hauptsächlich in das Innere des Landes, Emigranten zum zweiten Male.
Schon seit Ende des vorigen Jahres unterhält die Fraternelle Israélite in Clermont-Ferrand eine eigene Kantine. Das geräumige, dreistöckige Haus, das im Erdgeschoß Küche und Speisesaal für etwa 100 Personen enthält und im 1. Stock einen Schlafsaal für etwa 50 Personen vorsieht, reicht bei weitem nicht mehr aus. Man sah sich veranlaßt, in der Campagne, etwa 50 km von der Stadt entfernt, ein kleines Hotel zu mieten, das gegenwärtig zirka 40 Personen beherbergt, während in Clermont-Ferrand selbst weit über 100 Flüchtlinge das Komitee in Anspruch nehmen, obwohl der größte Teil der Männer noch oder bereits wieder interniert ist. Bis Kriegsbeginn gab es in Clermont etwa 50 deutsche Refugies, die von der Fraternelle Israélite betreut wurden.
In den kritischen Wochen war jede Verbindung mit dem Pariser Zentralcomite unterbrochen: enorme Schwierigkeiten in der Beschaffung der erforderlichen Mittel war die Folge. Die ansässigen jüdischen Familien sprangen helfend ein, und der Kantinenbetrieb konnte aufrechterhalten bleiben. Seit wenigen Wochen ist die materielle Grundlage wieder gesichert aus französischen Fonds, während, wie der Präsident der Fraternelle Israélite, Monsieur Raoul Dreyfus, kürzlich in einer Ansprache an die Emigranten ausführte, die regelmäßigen Ueberweisungen aus USA vorläufig nicht möglich sind.
Die französische Presse kündigt bereits seit Wochen die Gesetze zur Regelung der Ausländerfrage an. Große Ereignisse pflegen ihre Schatten vorauszuwerfen. In Herment, jenem kleinen Oertchen, in dem sich das Hotel der Fraternelle Israélite befindet (und von dem wir weiter oben berichteten), ist vor wenigen Tilgen in der Nacht das Reklameschild verschmiert worden in „Hotel des Juifs“. Vermutlich haben dieselben Elemente den Wegweiser, der auf der Landstraße die Richtung zu besagtem Hotel anzeigt, in ähnlicher Form verschandelt. —dt.
1 Fundstelle: Israelitisches Wochenblatt, Jg.40. Nr.39 vom 27.09.1940, aus: ETH Zürich, Archiv für Zeitgeschichte, Zürich.