1941 Jan 16 Rodolfo Olgiati1: Bericht ueber Gurs2

Vertraulich.

Besuch im Camp de Gurs.

[…] Bei Tagesanbruch machten wir uns […] auf den Weg. […] Nach 15 km Fahrt erreichten wir das Camp de Gurs, wo gerade mit Trompetenschall durch die Wachmannschaft die Trikolore hochgezogen wurde. Im Wachtlokal sollten wir mit anderen Besuchern bis 10 Uhr warten, bis der Kommandant unser Eintrittsgesuch zum Lager begutachtet haben wuerde. Inzwischen wurden wir einer Untersuchung nach etwaigen Korrespondenzen unterzogen, deren unzensierte Herein- vor allem Herausnahme streng verboten ist. Seit kurzem, nachdem in der amerikanischen Presse einige Berichte in sensationeller Aufmachung ueber das Camp de Gurs veroeffentlicht wurden, welche die franzoesische Regierung, die mit vielen Schwierigkeiten aller Art zu kaempfen hat, besonders verstimmt haben sollen, ist diese Zensur sehr streng. So ist auch der vorliegende Bericht nicht fuer die Veroeffentlichung in der Presse bestimmt3, sondern allein dazu, um in interessierten Kreisen fuer eine vermehrte Hilfe fuer die ungluecklichen Insassen des Camp zu werben; alles andere wuerde lediglich die Taetigkeit der verschiedenen Hilfsaktionen kompromittieren und sich nur zum Schaden jener Menschen, denen wir helfen wollen, auswirken. – Wir standen noch im gutgeheizten Wachtlokal, als unsere wackere, schweiz[erische] Helferin, Schwester Elsbeth [Kasser4] {Krankenschwester und Zivildienstschwester}, erschien, welche uns erwartet hatte und mit deren Hilfe wir auch sofort die Erlaubnis zur freien Zirkulation im gesamten Lager fuer die Dauer des Tages, dem 16. Januar 1941, erhielten. – {In den nachfolgenden Ausfuehrungen benutze ich z. T. Abschnitte aus einem Bericht von Schwester Elsbeth.}

Das Camp de Gurs ist eine Barackenstadt, welche im Mai 1939 fuer und durch spanische Internierte gebaut worden war. Laengs einer guten, fast 2 km langen Strasse befinden sich zu beiden Seiten, hinter vierfacher Stacheldrahtumzaeunung und auch untereinander abgegrenzt, 12 gleich grosse Unterabteilungen, die sog[enannten] Ilots, welche je 25 eng aneinandergereihte Baracken enthalten. Auf ein Ilot kommen 1.00 bis 1.200, auf eine Baracke {einige sind noch leer} 50 bis 60 Insassen, wobei maennliche und weibliche – im Alter von 0 – 104 Jahren! – in getrennten Ilots untergebracht sind.

Aus der Spanienzeit befinden sich noch ca. 700 Personen, hauptsaechlich Maenner, im Lager, welche als Arbeitsdetachements eingesetzt werden. – Das Anwachsen der Gefangenenzahl auf 1.500 erfolgte im letzten Oktober. Davon sind ca. 4.000 {worunter 370 Frauen und Maedchen}, die im Mai 1940 vor allem in Belgien  in der Aufregung der ersten Kriegstage als „Parachutisten“ {Fallschirmspringer} von der Strasse weg verhaftet wurden und in verschiedenen Viehwagen, welche mehrere 3 – 5 Tagen, ohne je geoeffnet zu werden, auf den Schienen blieben, nach Suedfrankreich

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verfrachtet und im Lager von St. Cyprien interniert gewesen waren. Im Oktober [1940] wurden sie dann nach Gurs verbracht. Einige Mitglieder der 5. Kolonne wurden laengst von deutschen Kommissionen befreit. – Ferner befinden sich im Lager noch etwa 7.000 in Baden und in der Pfalz ansaessig gewesene Juden, die – wie nur wenig bekannt – innerhalb einer halben bis einer ganzen Stunde mit hoechstens 50 kg. Gepaeck und 100 RM. Haus und Hof verlassen mussten und nach Frankreich verfrachtet wurden, wo sie voellig unerwartet ankamen. Ruecksichtslos wurden dabei auch Alters- und Invalidenheim, sowie Irrenanstalten geraeumt, deren Insassen in zahlreiche Faellen die beschwerliche Reise bis zum Fusse der Pyrenaeen nur als Leiche beendeten. – Der Rest der Lagerinsassen besteht aus kleinen Gruppen von Auslaendern verschiedener Nationalitaeten, die in Frankreich in verschiedenen kleineren Lagern verteilt waren. – Ins Lager werden laufend weitere Auslaender eingeliefert; solche, welche im Wirtschaftsleben als „ueberzaehlig“ betrachtet werden, dh. eine staatliche Unterstuetzung beziehen, oder denen auf Grund der neuen Gesetze die Arbeitsbewilligung entzogen wird, und die daher ebenfalls die nationale Wirtschaft belasten. –

Die niederen Holzbaracken sind von primitiver Baurat, mit undichten Waenden, durchloechertem Boden. Urspruenglich hatten sie keine Fenster und auch jetzt besetzen[!] nur wenige diesen Luxus, sodass die Insassen sich den ganzen Tag in voelliger Dunkelheit befinden, nur abends werden waehrend einiger Stunden die vorhandenen spaerlichen elektrischen Lampen unter Strom gesetzt. Die wenigen Waschgelegenheiten befinden sich ausserhalb der Baracken und sind sehr oft defekt, waehrend der Kaelte eingefroren. Die W.C. befinden sich ebenfalls ausserhalb der Baracken und sind halb offene Verschlaege mit Kuebeln, wie sie auf Bauplaetzen zu sehen sind. Das allerschlimmste ist der Lehmboden, der durch die vielen Regenfaelle dieser Gegend und durch das viele Begehen in ein Schlammmehr(!) verwandelt wurde, das vielfach ganz unpasssierbar ist und das bewirkt, dass das Herausgehen aus den Baracken fuer die Alten und Schwachen zur Unmoeglichkeit wird. Die aus dieser Tatsache folgenden gesundheitlichen und hygienischen Zustaende sind unbeschreiblich.

*Kommt an einem sonnigen Tag ein fremder Besucher und haelt mit seinem Auto auf der breiten Strasse an, so wird er zunaechst die praechtige Bergwelt ringsherum bewundern. Wenn er kein gutes Schuhwerk, d.h. keine Gummistiefel besitzt, wenig Zeit hat und ihm  der Erlaubnisschein oder gar der Mut fehlt zum Eindringen in die Ilots, so wird er nie eine Ahnung haben vom unbeschreiblichen Elend dieses Interniertenlebens.*

Wer auf die Lagerkost allein angewiesen ist, der geht mit Sicherheit in wenigen Monaten zugrunde. Die taegliche Nahrung enthaelt nach aerztlicher Berechnung rund 500 Kalorien {wobei ein nichtarbeitender Erwachsener normalerweise ueber 2.000 Kal. benoetigt} und besteht aus 300 Gramm Brot, 60 gr. Fleisch {inkl. Knochen} und zweimal taeglich duenne Suppe und Mohrrueben oder spaerliche Nudeleinlagen. Bei einer grossen Anzahl von Todesfaellen {vom 1. November bis Mitte Januar ueber 600, d.h. ca. 5%5 der Lagerinsassen} konnten die AErzte nichts anderes feststellen als Unterernaehrung. Es ist zuzugeben, dass eine groessere Anzahl aelterer Leute gestorben sind. Eine dysenterieepidemie und die ausserordentliche Kaelte forderten auch ihre Todesopfer. Die AErzte sind gegenwaertig stark beunruhigt, weil sie trotz einer Autopsie eine z. Zt. gespenstig auftretende Hirnkrankheit nicht erklaeren koennen. Die Autopsie konnte schon deshalb kein befriedigendes Ergebnis zeitigen, weil trotz Forderung seitens der Lageraerzte {alles Internierte, z. T. Professoren und bekannte Kapazitaeten} eine genaue mikroskopische Untersuchung nicht durchzusetzen war. Von dieser Krankheit werden hauptsaechlich juengere, intellektuelle, ausserordentlich stark verlauste und abgemagerte Menschen befallen.

In eifrigem Gespraech mit unserer Schwester sind wir am Ende des Lagers angelangt, wo sie „ihre“ Baracke hat, in die[!] sie seit dem 20. Dezember wohnt, als erste auslaendische Person, die im Lager freiwillig ihren Wohnsitz genommen hat; zum grossen Erstaunen und auf Grund eines besonderen Entgegenkommens der Lagerleitung. Schwester E. beschreibt uns den erst einige Wochen zurueckliegenden Beginn ihrer Taetigkeit fuer den „Secours Suisse aux Enfants“ im Camp de Gurs:

*In einer Baracke, am Ende der Frauenilots, neben dem Friedhof, erhielt ich mein Stuebli <3> zugewiesen, und 24 Stunden spaeter bereits das Wohnrecht auf die ganze Huette. Sofort versuchten wir – zwei Frauen halfen mit – den aergsten Dreck herauszuputzen. Das war aber nicht einfach. Weder Besen, noch Eimer, Lappen oder Buersten waren vorhanden. Nach langem Suchen und Bitten wurde uns fuer eine Stunde als kostbarer Schatz ein Besen anvertraut. Die Wasserleitung vor der Huette war eingefroren und das Wasser musste eine Viertelstunde weit hergeschleppt werden. Die hageren Frauen hatten keine Kraft mehr, energisch anzugreifen. Wir kratzten den Schmutz los, erwaermten uns allmaehlich; aber das Wasser unter unseren Haenden bildete eine eisige Flasche. Kein Fenster war ganz. Bissig blies der kalte Dezemberwind durch die Loecher und aus den Bodenrissen rannten hungrige Ratten. Es war Sonntag, aber wir wollten dem grenzenlosen Elend entgegensteuern. Wir waren fest fertig mit unserer Arbeit, da brachte uns, wie ein Geschenk vom Himmel, ein Camion die ersten zwei Pulvermilchfaesser. Ein behender Internierter gab uns etwas Holz {wohl Gestohlenes} und so war es halt herrlich, warme Milch zubereiten zu duerfen. Noch sehe ich die aufleuchtenden Augen der vor Kaelte zitternden Frauen ohne Struempfe in zerlumpten Schuhen, als ich ihnen die Milch brachte. Auch den armen Kinderlein im Spital durfte ich am Abend des 22. Dezember zum erstenmal von unserer suessen Schweizermilch einschenken. – In Pau erstand ich das allernoetigste Kuechenmaterial. Meine zwei geschickten Spaniergehilfen zimmerten mir aus Kisten die noetige Einrichtung. So einfach unsere Lager-Milchkueche ist, wir sehen sie mit Stolz und Dankbarkeit an, wohl wissend, dass jedes errungene Stueck seine besondere Geschichte hat. Im Raum neben der Kueche liegen Kaese und Kisten mit Maggisuppen, Cacao und Apfelschnitten. Daneben steht als Bewachung eine riesige, immer geladene Rattenfalle.

Am Weihnachtstag erhielten alle 600 Kinder eine Tasse warme Milch, sie stuerzten sich wie die Woelfe auf den Trank, weil sie meinten, es lange doch nicht fuer alle. – Am Sylvesterabend lernte ich saemtliche Baracken kennen. Bis um Mitternacht und den ganzen Neujahrstag wateten meine getreuen Spanier, José und Antonis, mit Milchkruegen bewaffnet, mit mir im Schlamm herum. Es bedeutet fuer die Lagerinsassen hinterm Stacheldraht etwas besonderes, wenn einmal jemand Aussenstehender sie aufsucht. So entstand zunaechst eine staunende Stille als wir mit den Milchkannen eintraten. Ich erklaerte, dass das Schweizervolk allen eine besseres Neues Jahr wuensche und den alten Grossmuettern und -vaetern ueber 70 Jahren {insgesamt etwa 1.200} in form einer Tasse warmer Alpenmilch einen Sylvestergruss sende. Manche Traene, die ueber furchige Wangen rollte, war der Dank. Einige Alte lispelten wie entgeistert mit heiserer Stimme: Milch? Ich habe seit 8 Monaten nie mehr Milch getrunken.

Es war fuer mich eine ergreifendes Erlebnis. Was ich in jenen Stunden empfand, kann ich nicht weitersagen. Aber ich moechte allen, die an die Elenden denken, den Dank weitergeben, den ich damals einheimsen durfte. Wenn ich jetzt durch die Ilots gehe, dann lueften die Greise in Ehrfurcht ihre armselige Kopfbedeckung, als waere ich die Schweiz.

Ich weiss, die guten Alten warten weiter auf Hilfe und Erloesung. Manche, ueber 90jaehrige, werden, wie Mumien zugedeckt, in den finsteren Barackenecken verwahrt. Andere versuchen mit ihren letzten Kraeften Schlamm, Kaelte und Hunger zu trotzen und viele, wohl die meisten, brechen zusammen. Eigentlich wollten wir ihnen  helfen. Wie aber, mit unseren bescheidenen Mitteln? Nach all dem Geschehenen finde ich keinen Mut dazu, auch wenn ich mir denke, meine eigene liebe Grossmutter waere darunter. Ich wage nur noch, ihnen einen sanften Tod zu wuenschen. Dieses unmenschliche Lagerleben koennen hoechstens Juengere ueberstehen, ihnen muessen wir helfen.

Fuer die Kinder bis zu 12 Jahren wird auch hier immer zuerst und relativ ordentlich gesorgt. Sie haben ihre bestimmten Schul- und Ausgangsstunden und erhalten nun bald das Fruehstueck {unsere Milch und ein Zusatz von Vitaminmehl von der juedischen Hilfe}.*

Unsere Schwester berichtet von ihren weiteren Plaenen; sie moechte in Zusammenarbeit mit anderen Hilfswerken {juedischen, protestantischen, Quaker} die Jugendlichen im Wachstumalter retten. Bereits hat sie einen der AErzte beauftragt, alle unterernaehrten <4> Jugendlichen des Lagers bis zu 17 Jahren zu untersuchen. Sie moechte ihnen ein Vesper geben, sobald sie die Mittel dazu hat. Die zu ueberwindenden Einkaufs- und Transportschwierigkeiten sind allerdings gewaltig. Trotzdem und ganz besonders gilt auch hier: „Wo ein Wille – und Glaube und Hingabe – ist, da ist auch ein Weg.“

Kurz nach unserer Ankunft in der „Schweizerbaracke“ wurde mit der Milchausgabe begonnen, welche seit dem 2. Januar [1941] im Gange ist und alle Kindern bis zu 5 Jahren umfasst. Die Milch wird vorlaeufig noch von den Muettern abgeholt. Ich sah da Frauen aus allen Gesellschaftsschichten mit allen moeglichen Gefaessen, Flaschen oder alten Konservenbuechsen den bescheidenen Nahrungszusatz fuer ihre Kinder abholen. An jenem Tage wurde als Extragabe fuer die weniger als 3jaehrigen je eine Buechse Kindermehl verteilt, welche von den Muettern aufleuchtenden Auges empfangen wurde. Die drei zentralen Spitaeler {Maennerspital mit 200, Frauenspital mit 150 und Kinderspital mit 25 Patienten, sowie das Saeuglingsheim} werden taeglich mit je 5-9 Litern Schweizermilch versorgt. Daneben werden auch die schwangeren und stillenden Frauen mit etwas Milch und Ovomaltine versorgt. Auch die Krankenbaracken in den Ilots sollen etwas Milch erhalten.

Und nun machen wir uns auf den Rundgang durch das Lager. Zuerst ins Kinderspital. Hier gab es bis vor einigen Wochen keine richtigen Betten, nur eine Art Eisengestell, worin ein Kind allein nicht haette schlafen koennen. So musste jeweils auch die Mutter eingeliefert werden und das kranke Kind halten, damit es nicht hinausfiel. Noch hat die Kinderschwester, die Scharlach, Dyphyeriefaelle6 usw., - ueberhaupt alle 15 Kinder zu versorgen hat, nicht mehr als eine Waschschuessel und ein Nachttoepfchen zur Verfuegung. Da liegt ein Kind, um dessen Leben Vater und Mutter – voneinander getrennt – im Lager bangen; es ist das einzige, das ihnen noch bleibt, denn bereits starb sein 7jaehriges Schwesterchen an Dysenterie und ein weiteres von einem Jahr in Deutschland, weil es nicht rechtzeitig ins Spital gebracht werden konnte; die Ambulanz, welche es abholen sollte, kam bis vors Haus, kehrte dann aber leer zurueck, als bekannt wurde, dass das abzuholende Kind juedisch sei.

Gleich neben dem Kinderspital liegt die Baracke, welche der „Jeunesse Protestante“ zur Verfuegung gestellt wurde, die vor kurzem drei Vertreterinnen ins Lager sandte zur Mitgilfe[!] bei der materiellen und geistigen Betreuung der Internierten. – nun erst begann unsere Wanderung durch die Ilots, die bis spaet abends dauerte. Immer wieder blieb ich im Schlamm stecken und musste mir von hilfsbereiten Lagerinsassen helfen lassen, meine verlorenen Galoschen wieder anzuziehen, oder den Barackenrand entlang oft mit Spruengen, manchmal kletternd, den Eingang zu erreichen. Das einemal kam eine gute Frau und reichte mir einen Schuhloeffel, das andermal begleitete mich ein alter Mann, Psychiater aus Wien, um mir die beste Route zu weisen von einer Baracke zur anderen. Manchmal war ein Vorwaertskommen nicht mehr moeglich, ein Schlammmehr trennte einen Barackeneingang vom gegenueberliegenden, kaum 4 Meter entfernten. Schwester Elsbeth mit ihren Gummistiefeln watete mit groesster Anstrengung durch und sank bis Kniehoehe ein; Ich begrief, warum viele, besonders die Alten, nie aus ihren Baracken kamen. Wenn wir in die Bracken traten, so nahmen wir wider Willen den Dreck mit unseren Schuhen hinein, der so gleichsam durch die Baracken hindurchfliesst. Oft vernahmen wir beim Eintreten aus dem halbdunkeln eine schwache Stimme, die uns bat, doch schnell die Tuere wieder zu schliessen, damit der Wind nicht hindurchpfeife, und wir erblickten in dichter Reihe  nebeneinander auf duennen Strohsaecken oder auch ohne solche und in kaerglicher Huelle am Boden liegend, unglueckselige alten Menschen. In mehreren Baracken hatte ich einzelnen Insassen Gruesse von Freunden und Verwandten aus der Schweiz zu bringen; sogleich war ich umringt von unruhig und hoffnungsvoll Fragenden und einen ganzen Tag haette ich in jeder einzelnen Baracke zubringen muessen {und es gibt deren mehr als 300}, um all die Fragen zu beantworten und Auftraege entgegenzunehmen. In schmerzlicher Hilflosigkeit stand ich auch oft da. Und wie viele Menschen, ungebildete und gebildete, bis hinauf zu Hochschulprofessoren und Geistlichen sind mir begegnet, denen gegenueber ich mir klein und arm vorkam, und nur tief beschaemt musste ich ihre Ehrerbietung und Dankbarkeit, die mir oft mit pathetischen, aber immer mit bewegten Worten bezeugt wurde, <5> ueber mich ergehen lassen. Sie galt nicht mir, sondern der Schweiz, der freien Schweiz, der guetigen, helfenden Schweiz. Ich nahm sie in stummer Beherrschung entgegen; in mir brannte der Vorwurf unerfuellter Verpflichtung. –

Weiter ging unser Weg zur Baracke der dysenteriekranken Frauen. Die eine Tuer stand immer offen, damit die beiden jungen Frauen, die mit eiskaltem Wasser und ohne Seife ununterbrochen beschmutzte Waesche wuschen, etwa sehen konnten. Dann folgte ein  Maenner-Ilot. – Hier war ein junger juedischer Jurist aus Belgien unser Begleiter. Er erklaerte uns die Ursache der grossen Unterschiede im Aussehen und in der Verfassung der Insassen verschiedener Ilots, ja verschiedener Baracken. Wer noch etwas Geld hat bzw. solches regelmaeßig von aussen bekommt, kann sich in den meisten Ilots, wenn auch zu sehr hohen Preisen, etwas zusaetzliche Nahrung kaufen; Sozialausschuesse haben sich nun ueberall gebildet, welche, von bestimmten Abgaben der „Besitzenden“, vielleicht auch von auswaertigen Hilfskomitees mit Mitteln versehen, die voellig Mittellosen durch etwas zusaetzliche Nahrung vor dem Hungertode zu retten versuchen. Ganz entscheidend fuer das Durchhalten ist aber der Lebenswille dieser Menschen; wo er fehlt und der Hoffnungslosigkeit Platz gemacht hat, da ist es um sie geschehen. Kraftlose, von Ungeziefer und Hautkrankheiten heimgesucht, die Maenner unrasiert, liegen sie da. Ein Bild des Elends, das an die am Wegrand sitzenden Aussaetzigen in den biblischen Geschichten erinnert. Andere wiederum, oft unterstuetzt durch ihre Kameraden, raffen sich auf, versuchen durchzuhalten und ein moeglichst „normales“ Leben bis zum taeglichen Rasieren, zu fuehren. Es werden Vortraege, ja Konzerte organisiert. Da und dort sieht man eine kleine Bibliothek oder einen Gemeinschaftsraum, wo es sogar Tische und Stuehle gibt. Den Lebensnerv aber bilden die Nachrichten von draussen, wenn sie auch mit grosser Verspaetung eintreffen; zum allerwichtigstem gehoeren die Schweizer Zeitungen, die zahlreichen Internierten regelmaessig von Freunden gesandt werden.

Noch vieles sehen und hoeren wir, bis wir spaet nachts von unsere treuen Schwester Elsbeth Abschied nehmen. Im Bewusstsein, dass die vor ihr stehenden Aufgaben den Rahmen unserer Kinderhilfsaktion weit uebersteigen und im Vertrauen darauf, dass es mir gelingen werde, fuer diesen besonderen Zweck – Hilfe fuer Gurs – in der Schweiz unter der Hand Mittel zu sammeln, die unserer Schwester zur Verfuegung gestellt werden sollen, bewillige ich ihr bereits einen ansehnlichen Kredit. – […]

Das Camp de Gurs ist nicht das einzige seiner Art in Frankreich. {Wenige Tage spaeter besuchte ich das Camp d’Argeles, mit 18.000 Insassen, welches aehnliche Verhaeltnisse aufweist.}

[…]

R. Olgiati.

 

1 Rodolfo Olgiati (* 30. Juni 1905 in Lugano; † 31. Mai 1986 in Bern) war ein Schweizer Pädagoge und humanitärer Aktivist in der „Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder“, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Rodolfo_Olgiati und https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009050/2009-11-02/ .

2 Fundstelle: maschinenschriftlicher Durchschlag, im LBI, Personal accounts and reports on the Gurs camp and other camps in France, 1940-1942, 1965, Gurs (Concentration camp) Collection. Box 1, Folder 6 (AR 2273).

3 Unterstreichungen in der Vorlage.

4 Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Elsbeth_Kasser.

5 Die Zahl ist nicht eindeutig lesbar.

6 Vermutlich: Diphtherie.