1941 Feb 19 H. Stein: Bericht1

19.2.1941

Hugo Stein2 – Camp de Gurs {Basses Pyrénées} Ilot E, Baraque 14

{von morgen an „residiere“ ich in der Baracke 11, der Verwaltungsbaracke}

Meine lieben Freunde:

Wenn Euch nur ein Bruchteil der Gedanken, die taeglich bei euch sind, erreichen wuerde, waert ihr mit Briefen von uns bereits foermlich ueberschwemmt worden. Aber ihr koennt vielleicht nicht ganz verstehen, wie schwer man sich hier zum Schreiben aufrafft, oft fehlt es einem an der Stimmung, mir selbst besonders aber, so merkwuerdig das klingen mag, an der Zeit. Ich schrieb ja schon in meinem „Brief an alle“, dass ich hier eine ganze Reihe von AEmtern versehe, dazu kommt von morgen an ein besonders schwieriges und verantwortungsvolles: ich bin als Nachfolger von Ellenbogen, der morgen in das Lager Noé3 bei Toulouse kommt – insgesamt sind ca. 300 Personen zum Ilot Chef gewaehlt worden und „regiere“ ueber 1.000 Personen – was das an Arbeit und Sorgen bedeutet, weiss nur der, der all die Noete des Lagerlebens kennt – aber die Arbeit in die ich nun schon richtig hineingewachsen bin, macht mir Freude, und zuweilen fehlt es auch nicht an Entspannung, z. B. wenn ich abends mit einigen Kuenstlern durchs Lager ziehe und als humoristischer Rezitator mit Erfolg versuche, die Menschen die Kuemmernisse des Barackenlebens vergessen zu lassen. Wenn es dann gar, wie neulich bei der „Secours Suisse“ ein Honorar, in Gestalt eines Stueckes Schweizerkaese abfaellt, ist es wirklich „Glueckes genug“.
Zu meiner Truppe gehoert u.a. Konzertmeister  Zander4, den du, lb. Paul sicher von Heidelberg her kennst, aber auch mit alten Karlsruhern konnte ich dabei Wiedersehen feiern: dem Tenorbuffo Peters, der heute noch eine wunderschoene Stimme hat, dem Kapellmeister Ebbecke, der unter Krips Solorepetitor war und der hier einen wundervollen Maennerchor auf die Beine gebracht hat, usw. Meine Arbeit hat mir natuerlich auch gewisse Verguenstigungen eingebracht, als wesentliche die, dass ich fast taeglich mit [Ehefrau] Annie5 zusammen sein kann. Meist ist es nur eine Stunde am Tag {„schwache“ Stunden gibt es ja hier leider gar nicht}, aber wenn wir dann beim Tee {in der […]scheschouve, will sagen beim Kaffee-Ersatz} in trauter Runde beieinander sitzen, - u.a. sind dabei immer die gut aufgelegte und liebe Else Kotkowski6, Rudis treue Gerta, Jenny Teutsch7, die Barackenchefin, die kluge Hedi Kaufmann, die auch ihre Mutter hier verlor, und viele andere – dann ist es zuweilen ganz gemuetlich. Und dabei sitzt oder schlaeft manchmal die Grossmutter Mayer, die ich taeglich sehe und die sich hier wirklich prachtvoll haelt. Es ist fuer sie und in ihrem Alter wirklich keine Kleinigkeit, wie sie Krankheiten und manche Entbehrungen mit einer beispielhaften  Energie hinter sich gebracht hat, und wie sie z.B. dieser Tage dem Geburtstagskaffee zu ihrem 80. praesidierte. Wir haben versucht ihr die fehlenden Kinder einigermassen zu ersetzen, und die obligaten Traenen haette es gewiss auch in Karlsruhe oder in New York gegeben. Und die „allerersten Kreise“ waren auch da, ausser mir sah man z.B. Dr. Behrens, Frau Geheimrat Mayer und viele andere – also fast wie daheim. Nur deine arme Mutter, lb. Erna, hat gefehlt – ich brauche Dir und euch allen nicht zu sagen, wie sehr ich gerade in den Tagen ihrer Krankheit und ihres Heimgangs in Gedanken mit euch verbunden war. Dir, liebes Ernale, druecke ich die Hand. Ich weiss, was es heisst eine Mutter zu verlieren, aber Du darfst auch nicht zu sehr trauern, sicher ist ihr manches Schwere erspart geblieben. Ich selber habe auch schon einiges hinter mir: Angina, Brechdurchfall, an meiner Bindehautentzuendung laboriere ich heute noch herum – abgenommen habe ich mindestens 40 Pfund und […] Kragenweiten – aber wenn man juenger ist, schlegt[?] man das alles nicht zu sehr an, nur an den Hunger kann man sich schwer gewoehnen, wenn man so gern gegessen hat, wie ich es einstmals tat. Annie ist noch ganz die Alte, sie war ueberhaupt noch nicht krank, schafft, putzt, waescht, und schimpft auch in ihrer Baracke „wie einst im Mai“. Unser einziger Wunsch ist, gesund zu bleiben und bald mit unseren Kindern und Euch allen in einer schoeneren Welt sicher vereint zu sein. <2> Und wenn man einmal glaubt es geht nicht mehr – auch solche Tage gibt es fuer Jeden, dann ist es diese Hoffnung, die uns aufrecht haelt – und wenn man tagelang in stroemendem Regen durch den Schlamm watet, dann richteten einen wieder ein Sonnenstrahl auf, oder ein Blick auf die schneebedeckten Pyrenaeen, die zum Greifen nahe liegen. Und wenn man gar erst Amerika Post von lieben Freunden liest – heute waren es die Briefe von Euch und Rudi an unsere Mutter und an Gerta Hoch, Briefe von Zeiles, Sofie Lewenthal und andere – dann weiss man, dass man auch hier nicht allein und verlassen ist und dass sich einmal auch wieder alles zum Guten wenden wird.

Ich muss jetzt Schluss machen, eine Menge Arbeit wartet noch auf mich. Gruesst mir alle, alle Freunde, den lieben Rudi natuerlich, Mahlers, Weiles, Weismanns {dem Sigi sind wir fuer alles, was er fuer uns und die anderen hier tut, besonders dankbar}, Looses, Achen – und Oppenheimers und wie sie alle heissen. Sagt ihnen, dass wir keinen von ihnen vergessen habe, auch Adlers nicht. {Robert laeuft im Bart herum, der meinige ist laengst gefallen} und dass wir uns freuen mit allen ein frohes Widersehen zu feiern. {„Wann“ sagt die Expedition des Blattes}. Ihr selber meine Lieben, lebt wohl und seid fuer heute mit vielen guten und aufrichtigen Wuenschen in aller Herzlichkeit gegruesst und gekuesst von Eurem

Hugo {Stein}

Vorhin bekam ich einen lieben besonders herzlichen Brief von Friedrich Struwe, der mir grosse Freude machte.

 

 

 

 

1 Fundstelle: maschinenschriftlicher Durchschlag, im LBI Personal accounts and reports on the Gurs camp and other camps in France, 1940-1942, part of Gurs (Concentration camp) Collection Box 1, Folder 6 (AR 2273), stellenweise kaum lesbar.

2 Rechtsanwalt *1887 Karslruhe * 1951 New York. Der Brief ist möglicherweise an Freunde adressiert, die bereits in den USA wohnen.

3 Das Camp de Noé war ein 14 Hektar großes Internierungslager am nördlichen Rand von Noé bei Toulouse. Das Lager diente vom Herbst 1940 bis 1944 der Internierung von durch das Vichy-Regime oder den deutschen Besatzern verfolgten Menschen.

4 oder Sander; dieser und die folgenden Namen sind nicht eindeutig lesbar.

5 geb. Stein *1897.

6 Ehemals Sekretärin der Jüdischen Gemeinde Karlsruhe, siehe  https://www.gedenkstaetten-bw.de/deportation-1940 .

7 Siehe https://gedenkbuch.karlsruhe.de/namen/4416.