Es sind noch ungefaehr 4.000 Menschen dort. 4 Ilots stehen leer. Der aeussere Zustand des Lagers ist im wesentlichen der gleiche geblieben. Zwar hat man versucht, die Wege auszubessern, aber ohne Erfolg. Bei Regenwetter versinkt man noch immer im Schlamm. Die Frauen-Ilots sind jetzt die schlechtesten. Ebenso erfolglos waren die Reparaturen an den Baracken, es regnet weiterhin durch.
Zwei wichtige Verbesserungen wurden durchgefuehrt: jeder hat nun sein Bett. Tische und Baenke sind den Baracken immer noch nicht gestellt worden, ein jedes Ilot hat nun seine Kulturbaracke, gut beleuchtet, die im Winter am Abend geheizt sind. Da aber die Ilots im Durchschnitt mit 450 Mann belegt sind, sind sie natuerlich viel zu klein.
Die Verpflegungssaetze sind die des unbesetzten Frankreich. Es gibt die gleichen Brot-, Fett- {keine Butter}, Trockengemuese-, Fleisch-, Nudel-, Kaese-, Zucker-, Kartoffel-, Tabak- und Seifenrationen. Die beiden letzten treffen unregelmaessig ein. Bei Café kommt, abzueglich der Ersatzprodukte, 2 gram pro Tag auf die Person. Bei einigen diese Lebensmittelrationen wird von vornherein ein bestimmter Prozentsatz abgezogen, beim Brot z.B. fuer „Austrocknung“, sodass die Rationen im allgemeinen nur 240 g. anstelle von 250 g., fuer Arbeiter 320 anstelle von 350 g wiegen. Dann aber wird bei der Ausgabe auf der Subsistance abgezogen. Bei den Fleischrationen fuer die Maternite[?] fehlten bei einer Belegschaft von 100 bis zu 2 kg Fleisch, bei den Ilots ist dieser Satz natuerlich entsprechend groesser. Die „Gewinne“, die dabei gemacht wurden, fliessen im Wesentlichen dem grossen „Schwarzen Markt“ zu. Man kann mit Hilfe von Zigaretten und Tabak die Abzuege verkleinern, ganz verhindern kann man sie nicht.
Der Hauptbestandteil der Nahrung war in den Herbstmonaten Kuerbis, in den Wintermonaten Rueben. In beiden Faellen handelt es sich um Viehfutter schlechtester Qualitaet. Die Kuerbisse wurden ohne Stroh in einem leeren Ilot in Baracken gelagert. 14 Tage nach der Einlagerung waren saemtliche Kuerbisse entweder von Ratten angefressen oder angefault. Mit den Rueben war es noch schlimmer. Die Rueben wurden in einer Regenperiode geliefert und wurden so, nass wie sie waren, teils in Baracken, teils im Freien im Schlamm und in Regenpfuetzen gelagert. Als die ersten Frostnaechte kamen, erfroren die Rueben. Die, die im Freien lagen, wurden mit Heu zugedeckt. Es wurde wieder warm und die Rueben tauten auf. Nach einigen Wochen war es unmoeglich, an den Stellen, an denen die Rueben gelagert waren, vorbeizugehen, ohne sich die Nase zuzuhalten. Waehrend bei den Kuerbissen noch die schlechtesten Stellen herausgeschnitten wurden, wurden die Rueben so ausgegeben, wie sie waren. Sie mussten auch so verarbeitet werden, denn sie stellen nun einmal die Grundlage der Nahrung dar, und es ist fast ausgeschlossen, davon auch noch etwas wegzuwerfen.
Alle, die nur von dieser Nahrung leben, sind zu Skeletten abgemagert. Schon gegen Ende des Winters 40/41 trat eine Krankheit auf, deren Ursachen in der Ernaehrung gesucht wurden, obwohl man nicht genau weiss, was es eigentlich ist. Die Gelenke an den Armen und Beinen schwellen an und bereiten schwere Schmerzen. Bisher sind schon etwas ueber 70 solcher Faelle bekannt geworden. Sie sind in einer besonderen Baracke untergebracht und erhalten eine Art Diaet. Zu einer haeufigen Erscheinung ist das Durchsuchen der Abfallkuebel geworden: weggeworfene Sardinenkoepfe, Kartoffeln- und Orangenschalen werden aus den Kuebeln herausgesucht, und teils gekocht, teils ungekocht von diesen Aermsten gegessen. Oft ist in diesen Kuebeln Rattengift, so kommen Vergiftungen recht haeufig vor. <2>
Die „Belieferung“ erfolgt 1.) von der Subsistance her. Hier verschieben französisches Personal und dort angestellte Lagerinsassen vor allem Fett, Öl und Fleisch; 2.) aus Einkäufen in der Umgebung des Lagers, die die Guardiens, die im Lager angestellten französischen Krankenschwestern und die Angehörigen der Arbeitskompagnien tätigen; 3.) mit der Paketpost.
An sich ist es verboten, rationierte Lebensmittel zu schicken. Aber wenn man dem Zensor eine Zigarette gibt, drückt er ein Auge zu – und beschlagnahmt nur die Hälfte, bei 2 Zigaretten drückt er dann schon beide Augen zu, bei noch mehr Zigaretten macht er das Paket schon gar nicht mehr auf.
Die Sûreté nimmt gelegentlich Verhaftungen vor. Die Leute werden schwer misshandelt, gelingt es ein Geständnis zu erpressen, werden sie dem Gericht übergeben. Aber die eigentlichen Gewinnler und Organisatoren des Schwarzen Marktes kann sie und will sie natürlich nicht fassen, denn die sitzen in der Lagerverwaltung oder sind mit ihr durch ihre Geschäfte so verbunden, dass sie unangreifbar geworden sind.
In fast jedem Ilot existiert ausserdem eine Kantine. An „Lebensmitteln“ findet man Dattelbrot, Ersatzsuppenpulver, Ersatzpuddingpulver, Bouillon D, gelegentlich Pfefferminztee. Zweimal in der Woche wird im Lager Markt gehalten. Die französischen Lagerangestellten haben die Priorität beim Einkauf: Wenn sie alles weggekauft haben, dürfen die Kantinen einkaufen. So bekommt man gelegentlich Paprikaschoten, Salat, Rüben aller Art. Mit Gebrauchsgegenständen, Schreibwaren, Gummischuhen, Toilettenartikeln sind einzelne Kantinen reichlich versorgt.
Gut organisiert ist der Radiodienst: Einem Internierten ist es erlaubt, in einer besonders abgedichteten Baracke alle Sender abzuhören und im Lager darüber zu berichten, unter der Bedingung, dass er seine Berichte der Zensur vorlegt und dass Berichte über Frankreich nur dem offiziellen Vichy-Radio entnommen werden dürfen. Die Meldungen der englischen und russischen Sender werden sehr ausführlich wiedergegeben. Mir ist kein Fall bekannt geworden, dass die Zensur jemals etwas gestrichen hätte. Die Berichte erfolgen zweimal täglich und werden ausserdem wöchentlich in einer Gesamtübersicht zusammengefasst.
Man darf nicht vergessen, dass diese an sich erfreulichen Dinge von einem auf den andern Tag gestrichen werden können und – dass die Zahl der Freikarten viel zu klein ist, als dass alle die es brauchten zu den Vorstellungen gehen könnten.
1 Fundstelle: maschinenschriftlicher Durchschlag, LBI, Personal accounts and reports on the Gurs camp and other camps in France, 1940-1942, 1965, Gurs (Concentration camp) Collection, Box 1, Folder 6 (AR 2273).
2 Unterstreichungen in der Vorlage.
3 Blatt 2 und 3 sind mit einer Schreibmaschine geschrieben worden, die die Umlaute ä, ö, und ü verwendete.
4 geb. 1908 in Hamburg, gest. 1990 in Paris; Komponist, Pianist.
5 CCAA = „Commission Centrale d’Assistance“, gegründet von Rabiner René Kapel, verteilte die Hilfslieferungen im Lager.