DIE PRESSE, Wien, 2005

LA SPEZIA. In Italien stand am Mittwoch der Prozess um das NS-Massaker von Sant'Anna di Stazzema im Zweiten Weltkrieg vor seinem Ende: Zehn frühere deutsche SS-Männer waren des Massenmordes angeklagt. Der Staatsanwalt hatte lebenslange Haft für alle gefordert.
Rückblende. Am frühen Morgen des 12. August 1944 brechen 300 Soldaten der 12. SS-Panzergrenadierdivision "Reichsführer SS" über das toskanische Dorf Sant'Anna di Stazzema herein. Sie metzeln nieder, wen sie erwischen: Frauen, Kinder, Alte. Handgranaten fliegen in Scheunen, wo sich Menschen verstecken. Auf dem Kirchplatz werden mehr als 130 kniende, betende Menschen und der Pfarrer erschossen. Die Deutschen reissen die Bänke aus der Kirche, häufen sie auf die Leichen, giessen Benzin darüber, legen Feuer. 560 Tote wird man später zählen -viele verkohlte Kadaver können nie identifiziert werden.
Der Prozess vor dem Militärgericht von La Spezia begann im Juli 2004. Die lange Verzögerung der Aufarbeitung liegt auch an Italien: Vierzig Jahre lang lagen die von den Alliierten angelegten Ermittlungsakten bei der Militär-Prokuratur in Rom im Schrank. Grund: "Staatsräson": Ende der 50er Jahre, bei der Integration Italiens und Deutschlands in die Nato, galt es nicht als opportun, den Gegner von einst zu belangen.
Erst 1994 wurde der "Schrank der Schande" geöffnet, als die Justiz Beweise gegen den in Argentinien aufgespürten Nazi-Schergen Erich Priebke suchte. Dennoch ist es wohl nur der deutschen Journalistin Christiane Kohl zu verdanken, dass der Prozess zu Sant'Anna ins Rollen kam. Sie hat die Justiz auf die Spur lebender Täter gebracht.
Heute gibt es nicht mehr viele, die man zur Rechenschaft ziehen kann. Journalisten, Historiker und Staatsanwälte in Deutschland und Italien fanden noch zehn Verantwortliche, alle um die 85. Zum Prozess kam keiner. Ausliefern kann sie Deutschland aus Verfassungsgründen nicht, aber die Staatsanwaltschaft Stuttgart betont, sie ermittle in der Sache.
Fast alle hatten bei den Vernehmungen erklärt, sie seien nie in Sant'Anna gewesen oder könnten sich nicht erinnern. Gerhard Sommer, der damalige Kommandant, heute rüstiger Rentner in Hamburg, erklärte im deutschen TV, er habe sich keine Vorwürfe zu machen. Jene Zeit sei für ihn erledigt.
Nur ein Mann gestand - vor den Medien, nicht vor Gericht -, eine Gruppe von etwa 20 Frauen und Kindern getötet zu haben. "Die sassen da vor ihren Häuschen. Sie waren ganz still. Wir haben auf dem Platz vor ihnen unser MG aufgebaut, ich habe geschossen, alle haben geschossen, wir haben einen ganzen Gurt leergefeuert", so Ludwig Göring, der zwischen Pforzheim und Karlsruhe lebt.
Während des Prozesses hatten diverse "alte Kameraden" öffentlich gesagt, die Aktion sei legitimes Mittel im Kampf gegen Partisanen gewesen, die in den Wäldern gelagert und deutsche Truppen attackiert hätten. Aus den Akten aber geht hervor, dass in Sant'Anna keine Partisanen waren. Sachverständige sprechen von einem vorsätzlichen Massaker an Zivilisten. Staatsanwalt De Paolis meint voll Bitterkeit, das "Persönlichkeitsprofil" der Angeklagten, der "falsch verstandene Sinn für Disziplin", sei unverändert: "Es gab keine Reue."
Die jetzigen Bewohner Sant'Annas, von denen einige das Massaker als Kinder überlebt hatten, begrüssten die Forderung nach lebenslanger Haft mit Applaus. Alle aber wissen, dass der Prozess eher symbolisch war und kein Verurteilter in Haft kommen wird. "Was soll man mit so alten Nazis auch machen?" fragte Lilia Pardini, die ihre Mutter und drei Wochen alte Schwester verloren hat. Mauro Pieri, dessen Familie fast ganz ausgelöscht wurde, sagte: "Was zählt, ist, dass endlich das Schweigen weggerissen ist."

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22.06.2005 20:24:50