Ansprache von Otto Schily auf der Gedenkfeier zum Massaker vom 12. August 1944 in Sant' Anna di Stazzema

Lieber Kollege Giuseppe Pisanu,

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,

verehrte Anwesende,

Wenn wir uns heute gemeinsam an das Massaker vom 12. August 1944 in Sant'Anna di Stazzema erinnern, dann ergreifen uns Entsetzen, Trauer und Zorn. Trauer um die Opfer eines grausamen Massenmordes, unter ihnen viele Kinder und Frauen. Entsetzen über die erbarmungslose Brutalität derer, die den Massenmord begangen und die ihn befohlen haben. Und Zorn, weil die strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Mörder nur zögerlich und viel zu spät in Gang gekommen sind.

Für uns Deutsche ist der 12. August 1944 ein Tag der Schande, der tiefsten Schande in jenen zwölf Jahren des Schreckens, des Fluches, der Massenverbrechen, der dunkelsten Zeit in der deutschen Geschichte. Es war die Zeit der schlimmsten Selbsterniedrigung Deutschlands, das sich in die Hand von satanischen Verbrechern begeben hatte. Es war die Zeit, in der Europa verwüstet wurde, eine Zeit der Gottverlassenheit, eine Zeit des Verrates des Geistes und der Seele Europas, eine Zeit des Verrates aller europäischen Werte durch den Nationalsozialismus und Faschismus. Es war die Zeit der Feigheit und der Gewissenlosigkeit in Deutschland und der Trägheit des Herzens. Es war die Zeit, in der die Nazi-Verbrecher überall willige Helfer fanden, leider auch in Italien.

Aber es gab auch die anderen. Es waren wenige, zu wenige. Es gab den jungen deutschen Soldaten, der am 12. August 1944 Einwohner von Sennari nach Valdicastello escortierte und ihnen das Leben rettete, es gab deutsche Soldaten, die italienischen Gefangenen zur Flucht verhalfen, es gab den deutschen Soldaten, der sich auf dem Balkan weigerte, an der Erschiessung von Zivilisten teilzunehmen, und als der Kommandant ihn vor die Wahl stellte, entweder zu schiessen oder selbst erschossen zu werden, sich aufrechten Ganges in die Reihe der Opfer stellte. Es gab Deutsche, es waren viel zu wenige, die Verfolgte vor den Nazi-Schergen versteckt haben, und es gab Deutsche, es waren zu wenige, viel zu wenige, die aktiven Widerstand geleistet haben. Wir gedenken ihrer am 20. Juli. Es gab den deutschen Offizier, er heisst Bertold Beitz, der mit der Waffe in der Hand die SS daran hinderte, jüdische Menschen in das Konzentrationslager abzutransportieren, der aber später den Dank dafür mit den Worten abwehrte, er habe nur etwas ganz Selbstverständliches getan, er sei der "Pflicht seines Herzens" gefolgt.

Jene, die am 12. August 1944 auf die grausamste Weise die Menschen in Sant'Anna die Stazzema umgebracht haben, sie haben die "Pflicht ihres Herzens" verleugnet, sie haben sich auf die elendste Weise an der Heiligkeit des menschlichen Lebens versündigt.

Es bedarf keiner juristischen Klügeleien, um zu erkennen, dass das, was am 12. August 1944 in Sant'Anna die Stazzema geschah, blanker, brutaler Massenmord war. Dass erst nach 60 Jahren die Aussicht auf eine gerichtliche Aufarbeitung dieses Massenmordes besteht, gehört zu den deprimierenden Erfahrungen der überlebenden des Massakers.

Wir sind den überlebenden und allen Bürgerinnen und Bürgern von Sant'Anna di Stazzema dankbar dafür, dass sie Gerechtigkeit verlangen, aber nicht auf Rache sinnen. Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass sich mich als Deutschen heute unter ihnen willkommen heissen und dass ich zu Ihnen sprechen darf. Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie sich in der Tradition des Widerstandes gegen Nationalsozialismus und Faschismus aktiv für Frieden und die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen und das in dem von Ihnen errichteten Friedenspark dokumentieren.

Und wir alle dürfen dankbar sein, dass wir heute in einem vereinigten demokratischen Europa leben, das seine Feindschaften überwunden hat, das ein Hort des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes geworden ist, das vereinigte Europa, das sich seines gewaltigen kulturellen Reichtums erfreut, das Europa, das sich als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts versteht, das Europa, in dem die europäische Grundrechtscharta gilt, auf die sich jeder europäischer Bürger berufen kann. Es ist das Europa, das Robert Schumann, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer begründet haben, es ist das Europa, das der frühere italienische Präsident Pertini und der frühere deutsche Bundeskanzler Willy Brandt, die beide im aktiven Widerstand gegen die nationalsozialistische Barbarei engagiert waren, entscheidend mitgestaltet haben. Es ist das Europa, in dem mein Freund Giuseppe Pisanu und ich die verantwortungsvolle Aufgabe haben, im Kreise der europäischen Justiz- und Innenminister dafür zu sorgen, dass die Menschen in Europa in Sicherheit und Freiheit leben können und vor Verbrechen geschützt werden.

Es ist auch das Vermächtnis der Opfer des 12.August 1944, dass wir unsere gemeinsame Verantwortung für das demokratische, rechtsstaatliche und freiheitliche Europa wahrnehmen und allen Kräften, die es wieder von diesem Weg abbringen wollen, entschlossen entgegentreten. Europa darf sich niemals wieder verfeinden, es darf niemals wieder dem Hass und Fanatismus verfallen, es darf niemals wieder die Werte der christlich-jüdischen überlieferung und der europäischen Aufklärung verleugnen. Und Europa muss seine Kraft einsetzen für die friedliche Lösung von Konflikten, für den sozialen und wirtschaftlichen Ausgleich in der Welt und für die weltweite Einhaltung der universellen Menschenrechte. Wenn uns das gelingt, dann kann aus der tiefen Trauer um die Opfer des 12. August 1944 die Hoffnung und Zuversicht auf eine bessere und glückliche Welt für unsere Kinder und Enkelkinder hervorgehen

Quelle: http://dfxnet.de/spd/schily/reden/reden_an.html - am 14.10.2006 - nicht mehr zugänglich am 03.10.2012.
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