1783 H. Sander1: „Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien“, Auszug

 

Heinrich Sanders, | Professors am Gymnasium illustre in Carlsruhe, der Gesellschaft Naturforschender Freunde in Berlin, und der Fürstlichen Anhaltischen deutschen Gesellschaft in Bernburg Ehrenmitgliedes | Beschreibung seiner Reisen | durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien; | in Beziehung auf Menschenkenntnis, Industrie, Litteratur und Naturkunde insonderheit. | Erster Theil. | Leipzig, | bei Friedrich Gotthold Jacobäer und Sohn, | 1783.2

 

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Reise nach Coͤlln.

Den 30sten Aug.

Diesen Abend kam ich in Coͤlln an, nachdem ich vorher Juͤlich und Bergen, 2 kleine Landstaͤdtchen passirt hatte. Nichts ist so laͤcherlich, als die wichtige Mine, die sich die Besatzung in solchen kleinen Plaͤtzen zu geben pflegt. Da gehen sie so fuͤrchterlich vor den Fremden auf den Posten am Thor herum, als wenn sie den Schluͤssel von ganz Deutschland zu bewahren haͤtten. Die Gegend hier herum ist ganz unvergleichlich fruchtbar, abwechselnd, und war fuͤr mich eine grosse Erquickung. Im Thore muß man absteigen, und soll visitirt werden, und diese Visitation muß man noch am Thor und auf dem Zimmer dem hungrigen Soldaten bezahlen. Ein wahres Spielwerk ists, ein Schatten, ein lahmes Wesen, ohne Ernst. Eine der besten Aubergen hier ist der Geist3 am Rheinthore.

 

Den 31sten Aug.

Heute war Sonntag. — Ich ruhte aus, bestellte die Post, schrieb Briefe, sprach mit daͤnischen Offiziers, die hier auf der Werbung lagen, und ging dann um die Stadt herum. Sie ist so gros, daß man 2 volle Stunden braucht, wenn man sie ganz umgehen will. Sie hat eine Menge grosser und kleiner Thore, und 500 Mann Stadtsoldaten, die alle Thore besetzen. Der Graben ist ganz bewachsen, und zum Theil in Garten verwandelt, hat aber einen schoͤnen Spaziergang, und auf der einen Seite laͤuft der lange Rhein, <614> aber nicht gar breit, an den Mauern weg. Es ist auch eine fliegende Bruͤcke hier. Die Schiffe, die da sind, bedeuten nicht viel; es sind Frachtschiffe, die nach Amsterdam und nach Koblenz gehen. Wegen den bestaͤndigen Streitigkeiten der Spediteurs der Stadt, und der von Bonn, von Hessen etc. ist das kein so eintraͤglicher Nahrungszweig, als er‘s sonst seyn koͤnnte.

Einige wenige Buͤrgermeistershaͤuser abgerechnet, macht kein Haus Figur. Doch hat die Stadt mehr als alle alte Staͤdte, die ich noch gesehen habe, breite Strassen, viele mit Baͤumen besetzte Plaͤtze, und scheint nicht ungesund zu seyn.

Bemerkungen. In Absicht des Pfaffenwesens und der Menschenreligion ist freilich Coͤlln, das deutsche Rom4, aber in Hinsicht der Gebaͤude und der Pracht gewis nicht.

 

Die Lebensart ist halb hollaͤndisch, halb deutsch. Hier sieht man noch alte deutsche Buͤrger in langen Westen bis auf die Knie von gebluͤmten Kalmank [=gemusterter Wollstoff], den vielfaltigen Rock wie einen Umhang daruͤber, und uͤber das alles einen grossen blauen Mantel. In diesem Aufzuge geht der Coͤllner spazieren. Auch hoͤrt man hier schon wieder Sonntag Abends das deutsche Fluchen und Juchzen der Besoffenen. Die alten Invaliden am Thore werden dann freilich nicht Meister. <615> Auch ist hier schon wieder ander Geld und viel Verwirrung dabei.

 

Den 1sten Sept.

Ich besah heute die Domkirche zu St. Peter. Sie ist so alt, daß der Thurm keine Spitze mehr hat, ein Stuͤck faͤllt nach dem andern herab. Inwendig ist sie ungeheuer weitlaͤuftig, und hat weder Stuͤhle noch Kanzel. Bestaͤndig ertoͤnt sie vom Pfaffengebrumme und Heiligenklingeln. Die dicken feisten Waͤnste laufen in unzaͤhlbaren Schwaͤrmen zwischen dem blinden Volke herum, und denken nicht wie der, welcher des irrenden Hausens sich erbarmte. — In Kapellen rings an den Mauern des Chors herum liegen die Bildsaͤulen der vergoͤtterten Bloͤdsinnigen, die zuerst den Dom erbauten und zur Maͤstung der Goͤtzenpfaffen beschenkten. Alle Morgen um 9 Uhr wird dem blinden Volke hinter einer goldnen praͤchtig gearbeiteten und mit Licht erhellten Monstranz weis gemacht, daß man die Leichname der sogenannten heil. drei Koͤnige aus Morgenland hier habe. — Wer dann Geld zahlen will. der bekommt den Schatz zu sehen. Da sieht man den Stockknopf des Apostels Petri — aus Kokosnus!! — in einem praͤchtigen goldnen und silbernen Futteral. Das mittelste Stuͤck ist in Rom, das untere Stuͤck in Trier, der Knopf aber hier. — Glieder von der Kette Petri aus Apost. Gesch. 1. Sie sollen vom Glanz des Engels wie zerschmolzen seyn. Risum teneatis, amici5 etc. — Knochen von der Maria Magdalena, — das Brustbein, und die Phalanges vom Stephanus, Paulus, Petrus etc. — Ein Oberkleid, das die Mutter Gottes auf ihrem heiligen Leibe getragen haben soll. <616> Es ist ein gruͤner Pelz. — Von Christi Kreuz ein Stuͤck. — Die Kleider des Kaisers bei der Kroͤnung. — Die Bekleidung des Kaiserlichen Stuhls. — Die Churfuͤrstenmaͤntel, einer wiegt 80 Pfund. — Das Jurisdiktionsschwert, das vorgetragen wird. — Silberne Leuchter und Meßsachen, von einer ungemeinen Groͤsse, Pracht und Arbeit. — Zwoͤlf Apostel aus vergoldetem Silber. — Kruzifixe, schwer von Gold, Edelgesteinen, Schmelzarbeit etc. — Schmuck und Kronen fuͤr Maria und ihr Kind. — Eine Bischofsmuͤtze, ganz aus aͤchten orientalischen Perlenschnuͤren. —

An allen diesen Sachen ist die Pracht, der Reichthum, die Menge und die Groͤsse der Edelsteine, die an einigen Stuͤcken noch roh sind, unbeschreiblich. Ich sah mehr auf das, als auf jene Dinge, und, wie mir der Mann wieder von vorn so feierlich anfing, seinen religioͤsen Unsinn herzuleiern, so warf ich ihm mein Geld mit sichtbarer Verachtung hin, und haͤtte ihn gern — —

Drauf besuchte ich die Kirche der heil. Ursula. — In diese Kirche ging ich auch noch, der Kirchengeschichte zu Ehren. St. Ursula hat ein ziemlich schoͤnes Grabmahl darin, an dem steht, Indicio columbae detectum. Nebst dem gehen oben in der ganzen Kirche an der Porkirche Wandkasten mit Gitterfenstern herum, hinter denen die Gebeine von 11000 Jungfern aufbewahrt werden; unten, hinten, und wo man hinsieht, sind grosse Kasten voll Knochen, und uͤberall Gemaͤlde von Jungfern mit Pfeilen durchbohrt, und dafuͤr mit Kronen gekroͤnt. Die armen Kinder!! Damahls muͤssen die Jungfern nicht so selten gewesen seyn! — — Ewig Schade, 11000 <617> Jungfern!! Was sollen wir jetzt mit den Knochen anfangen? ohne Haut und Fleisch! —

Lieber und nuͤtzlicher war mir das Tobakspfeifenmachen zu sehen, hier nennt mans Pfeifenbacken. Es ist aber sehr heruntergekommen. Lange Pfeifen werden fast gar keine mehr hier gemacht, man bringt sie selber nach Coͤlln von einem andern Orte in der Gegend. Die Erde koͤmmt aus der Gegend von Andernach. Zu den kleinen hat der Mann ein in der Mitte getheiltes Modell von Metall. Er macht die Erde feucht, walkert die Pfeife, und formt vorne gleich einen dickern Theil daran, laͤst sie dann so, mehrere an einander, in der Stube, oder im Keller trocken werden. Dann hat er einen Stift von Eisen oder Stahl, mit dem stoͤßt er sie durch, und indem die Pfeife uͤber dem Stifte ist, legt er sie in das Modell, und kneipt sie ab, das modelt sie. Die uͤberschiessenden Anhångsel schneidet er dann mit einem Messer ab. Die Glaͤtte gibt er ihr aussen mit einem Stuͤck Achat, und innen mit einem Stůck Holz, das grade die Groͤsse des Kopfs hat. Es gehoͤrt ein Handgrif dazu, daß das Loch vor dem Kopfe grade in die Mitte kommt, sonst bricht die Pfeife. — Hierauf setzt man die Pfeifen in Toͤpfen in Ofen. Man kan mit nichts feuern, als mit Buͤchenkohlen. Eichenholz will man nicht. — Zur Glasur nimmt man eine Art Seifenerde, die mit Wasser wie Milch aussieht etc.

Bemerkungen. Ich begegnete heute um 9 Uhr dem Buͤrgermeister, da er auf die Regierung fuhr. Es sind ihrer 6, und zwei davon regierend. Sie wechseln alle Jahre. <618> Vor dem regierenden laufen 2 Bediente in gelber Livree, einer mit dem Regimentsstabe in der Hand, her.

Nach Coͤlln darf kein Jude kommen. Jede Stunde kostet ihm 100 Dukaten. — Naͤrrische, harte Gesetze, als wenn wir bessre Geschoͤpfe Gottes, als dies verstoßne Volk waͤren, als wenn Erde und Luft unser Eigenthum waͤre! Ohne Zweifel ist dies wieder eine Wirkung von der satanischen Gewalt, die sich ehemals die Bauchpfaffen anmaßten. In Mastricht ward vor Kurzem ein Jude eines Diebstahls wegen zum Staupbesen verurtheilt. Der Poͤbel ging im Haß weiter, als die Gerechtigkeit der Richter erkannt hatte. Auf allen Strassen rottete sich das Volk zusammen, der Missethaͤter ward mit Steinen vor die Stadt hinaus verfolgt, die schlaͤfrige Obrigkeit wehrte nicht ernstlich, die Jungen ruhten nicht, bis der ungluͤckliche Jude unter dem Steinregen das Leben ausgab. Ach Christen! ach Menschen! wie wollt ihr das dereinst vor dem Schoͤpfer und Menschenvater verantworten! Ihr, die ihr jungen Seelen das Gift des Religionshasses einfloͤsset, leckt das Blut auf, und tragts vor Gott, wenn ihr Herz habt!

 

1 Heinrich Sander (* 25. November 1754 in Köndringen; † 5. Oktober 1782 in Karlsruhe); Physikotheologe, Naturhistoriker und Reiseschriftsteller.

2 Fundstelle: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Signatur: BB-PK, Pv 4610a; https://nbn-resolving.org/urn%3Anbn%3Ade%3Akobv%3Ab4-200905197958; https://www.deutschestextarchiv.de/book/show/sander_beschreibung01_1783

3 Nicht das Heiliggeisthaus (auch „Hospital Geisthaus“): Das war im mittelalterlichen Köln ein Hospital und Armenherberge und lag am Domhof neben der Hacht auf der heutigen Domplatte.

4 „Nur allein der vornemsten Kirchen hier sind 260, und ausser diesen noch 4 Abteien, 17 Mönchs- und 39 Nonnenklöster, 16 Spitäler und 50 Kapellen. Herausgeber.“

5 Horaz, Ars poetica 5: Ihr solltet euch das Lachen verkneifen, Freunde.