Persius über die Freiheit

 

οτι μονος ο σοφος ελευθερος και πας αφρων δουλος.

Der Begriff der Freiheit in der Antike

Der Begriff der Freiheit war in der Antike enger gefasst als er in unserer Zeit ist. Wenn wir heute von Freiheit sprechen, meinen wir die politische Freiheit und damit die Grundrechte, deren Garantierung und Verwirklichung die Grundlage der Demokratien ist. Der Antike war der Katalog der Grundrechte noch unbekannt; die römische Republik war ein Ständestaat die Aristokratie hatte die politische und wirtschaftliche Macht inne, der grösste Teil des Volkes war an der Regierung nicht beteiligt. Zwar kämpfte die plebs jahrhundertelang um die Mitbestimmung im Staate, als aber die Lage reif war, übernahm Caesar die Lenkung des Staates und leitete damit den Prinzipat und die Kaiserzeit ein. In dieser Periode wandelt sich das Staatsdenken der Römer: Einigen unter ihnen wird bewusst, dass sie „unfrei“ (im modernen Sinne) sind; Seneca umschreibt es fein in seiner Schrift de tranquillitate animi :

Je nachdem sich also der Staat gestaltet, je nachdem das Geschick es gestattet, werden wir unsere Tätigkeit entweder ausdehnen oder einschränken, jedenfalls aber uns in Bewegung halten und nicht von Furcht gebannt untätig sein. Der ist ein wahrer Mann, der, wenn ihn auch Gefahren bedrohen, wenn Waffen und Ketten (!) um ihn her klirren, seine Tugend nicht scheitern lässt und sich h nicht verkriecht. Denn sich vergraben heisst nicht sich erhalten ... Ist dein Leben in eine Periode des Staates gefallen, in der sich wenig für ihn tun lässt, so muss es deine Aufgabe sein, dich der Musse und den Wissenschaften zu widmen ...1

Seneca beabsichtigt nicht, den Prinzipat negativ zu bewerten: ihm liegt daran zu zeigen, dass es Tyrannen geben kann und dass man die ungünstigen Zeiten ihrer Herrschaft überleben muss. Dass die Regierung von Tyrannen und Diktatoren für die Römer nicht nur ungünstig, sondern auch gefährlich sein können, haben Seneca und seine Zeitgenossen schon erfahren: die Regierungszeit des Tiberius war schrecklich genug. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wenn Seneca neben den Gefahren des Krieges auch die der Kerkerhaft nennt: eine Assoziation, die den Römern früherer Zeiten nur in Verbindung mit Marius und Sulla in den Sinn gekommen wäre. Dass Seneca bei dem Wort „Gefahr für Leib und Leben“ nicht nur an das Schlachtfeld, sondern auch an das heimatliche Rom denkt, zeigt, dass manche Römer sich nicht immer sicher fühlen und frei und ungehindert bewegen konnten.

Anders äussert sich Tacitus in seinem Dialogus de oratoribus2: Der Prinzipat verhindert, dass politisch bedeutende Talente sich entwickeln, sei es dass die Herrscher unliebsame Staatsmänner aus dem Weg räumen, sei es dass das politische Klima, das die Mitverantwortung und Mitarbeit des Bürgers nicht beansprucht, die den Römern eigene „virtus“ sich nicht entfalten lässt.

Tacitus trauert den Zeiten Ciceros nach, als es zwar turbulent in Rom zuging, aber die Beredsamkeit auf dem Forum und im Senat in den Prozessen gegen Catilina, Milo, Verres und Antonius wahre Triumphe feierte. Heute gibt es zwar keine Bürgerkriege mehr, Ruhe und Ordnung sind eingekehrt – aber mit der Redekunst ist es auch vorbei! Und damit mit einer Entfaltungsmöglichkeit des politisch interessierten und engagierten Römers – und wer war das nicht?

Hier regt sich in Ansätzen eine grundsätzliche Kritik an der herrschenden Staatsform. Tacitus erkennt,

Seine Intention ist, im Vergleich mit der Republik Schattenseiten des Prinzipats aufzuzeigen: Mangel an politischer Entfaltungsmöglichkeit und freiwillige Preisgabe der Unabhängigkeit.

Diese Formulierung hat nichts mehr mit libertas zu tun, ein Wort, das wir allerdings ungenau mit „Freiheit“ übersetzen. Forcellini definiert libertas unter (2): „speciatim in re civili est status et conditio liberi hominis, quae servitus opponitur.“3, d. h. der Rechtsstatus des freien Römers im Gegensatz zum Sklaven. Dieses Begriffspaar verwendet auch Caesar: „Omnes homines natura libertati studere et conditionem servitutis odisse.“4 Selbst wenn Caesar hier servitus im übertragenen Sinne meint, bleibt es dabei, dass die libertas auf den personalen, zivilrechtlichen Bereich beschränkt ist und nicht die Freiheit des Bürgers gegenüber der Exekutive meint.5
Dies betone ich nicht wertend, da es methodisch verfehlt ist, der Antike die Unkenntnis der Grundrechte vorzuwerfen und ihre Auffassung von Freiheit an der unseren zu messen6, sondern nur um jeglichem Missverständnis vorzubeugen, dass vielleicht den modernen Begriff der Freiheit bei Persius vermisst. Von dem aufgezeigten Gehalt des Wortes „libertas“ geht die Stoa - und damit Persius - aus; freilich, um ihn sofort zu verneinen und zu behaupten, diese sei nicht die wahre Freiheit. Das, was die Stoa postuliert, ist „libertas“ in einem übertragenen Sinne. Die wahre libertas ist nicht eine Sache des Zivilrechts, schärft Seneca Lucilius ein: „in tabellas vanum conicitur nomen libertatis, quam nec qui emerunt habent nec qui vendiderunt.“7

Der Begriff des liber und des sapiens in der Stoa

Das wirft die Frage auf, wer denn, obwohl er ein Freier ist, dennoch ein „servus“ ist. Die Stoa antwortet: Es sind diejenigen, die nicht „recte“ leben, die die  Pflichten hassen, die unbedacht in den Tag hineinleben, die sich vor den Gesetzen fürchten und nicht erkennen, dass es heilsam ist, sie zu befolgen, die, weil sie nichts aus eigenem Antrieb unternehmen, immer wieder auf ihre Aufgaben gestossen werden müssen.8
Diese passiven Naturen sehen und haben nicht die Möglichkeit, frei zu leben, auch wenn sie freie Römer sind: Sie sind oder bleiben zeit ihres Lebens „servi“. Epiktet begründet es anders, nämlich nach der sokratischen Tradition , er fragt: , worauf er die Antwort erhält:  und dann fortfährt: Also handeln alle die Dummköpfe, Tagediebe und Betrüger gegen ihren Willen!9 Während Cicero diejenigen, die nichts aus eigenem Antrieb tun, als „servi“ bezeichnet, ordnet Epiktet darunter die , gemeinen, niedrigen und verkommenen Subjekte ein. Cicero fasst den Begriff der Unfreiheit weiter, da er bereits ein geistiges Abhängigkeitsverhältnis darunter zählt.
Worin äussert sich diese Abhängigkeit ? Welche Haltung kennzeichnet diese „servi“ ? Sie können nicht nein sagen, sie können nichts abschlagen, sie lassen sich wie Sklaven hierhin und dorthin schicken.10 Sie besitzen kein Rückgrat, würden wir sagen, oder mit Persius: Sie sind nicht fähig, „recto vivere talo“.11
Aber wer ist denn nun in der Lage, richtig zu leben? Einzig der Weise! Alles, was er tut, hat den Ausgangspunkt in seinen Überlegungen und in seinem Willen; er kann den Entschluss und Vollzug des Handelns als sein geistiges Eigentum bezeichnen; er ist in seinem Tun selbständig; er gehorcht den Gesetzen nicht aus Eurcht, sondern aus der Einsicht, dass sie notwendig sind; er lehnt es ab, was ein anderer ihm vorschreibt, nur weil er es ihm befiehlt, zu tun, sagen oder denken. Wenn er etwas plant oder beschliesst, prüft er vorher, ob der Beschluss übereinstimmt mit dem von ihm selbst vorgefassten Lebensweg (vita provisa); ihm gelingt es, nichts gegen seinen Willen zu tun, zu erleiden zu nichts gezwungen zu werden, Entweder handelt er freiwillig - das kann auch sein: aus Einsicht in das Verlangte - oder er rührt keinen Einger, er lässt sich aber nie zu einer Tat zwingen.12
Was verleiht dem Weisen die Kraft, so zu leben? Der Grund des Gebäudes seiner Ethik ist dme Tugend oder - was nach stoischer Lehre identisch damit ist - das Wissen, die Kenntnis von Gut und Böse, die den Charakter der Wissenschaftlichkeit hat13 und - geradezu dialektisch definiert - ihre Anwendung auf das tägliche Leben verlangt: 14

Wer im Besitz der episteme = ars ist, muss, da die Wissenschaft nicht nur die Definition der arete liefert, sondern auch deren Anwendungsmöglichkeiten aufzeigt, diese arete verwirklichen. Dazu Plutarch:

.15

Das philosophische Wissen ermöglicht den Erwerb der arete. Nur wer Wissend ist, wer um die aireta und pheukta / sequenda und evitanda weiss, ist tugendsam. Nur wer in der Tugend lebt, lebt richtig, da er weiss, was er wollen soll. Wer nicht der arete gemäss lebt, hat keine Massstabe und keine Kichtung, derer er sich bedienen könnte, um die Bestimmung seines Lebens wahrzunehmen und zu befolgen. Dem Weisen gibt die Inhalte seines Lebens die arete genauer: das Wissen von der arete.

Jetzt wird es klar, weshalb es möglich ist, dass ein freier Römer durchaus unfrei ist: Das ist dann der Fall, wenn er sich nicht darüber im klaren ist, was er überhaupt will und was nicht. Bei der Einzelbetrachtung des Persius werden wir sehen, dass solch ein freier Mensch sich mit allerlei mehr oder weniger wichtigen Dingen abgibt, in den Tag hineinlebt und sich von seinen Abenteuern oder Begierden treiben lässt: So betrachtet ist ein Freier selbstredend ein „servus“.16

Persius und die Freiheit

Mit welchen Inhalten füllt nun Persius das stoische Lehrgebäude? Hauptsächlich dadurch, dass er in einer Negativdokumentation zusammenstellt, was Unfreiheit ist. Der beissende Ton einer Kontrastschilderung passt auch besser zu der angriffsfreudigen, zuweilen ätzend scharfen satura; eine direkte moralische Belehrung wäre in einer satura verfehlt, ja sie nähme ihr ihren spezifischen Charakter.

So geisselt denn Persius einen Katalog von Schwächen, Fehlern und Lastern, die die Menschen nicht zu ihrer wahren Freiheit gelangen lassen. Sie werden durch alle Satiren hindurch - besonders aber in der fünften - immer wieder angeprangert, was nicht verwunderlich ist, da diese Untugenden sich zu jeder Zeit und bei allen Menschen zeigen. Seneca zählt sie zu Beginn seiner Schrift ad Paulinum de brevitate vitae alle auf und beschliesst das Kapitel mit dem Satz: „vitia ... oculos ... immersos et in cupiditatem infixos premunt.“17 Dies könnte eine Zusammenfassung der Vorhaltungen des Presius sein.

libido

Die erste Anklage, die man gleich zu Beginn der ersten Satire liest, richtet sich gegen die sexuelle Begehrlichkeit seiner Zeitgenossen: „carmina lumbum intrant et tremulos scalpuntur ubi intima versu.“ ( I 20 f); sie finden Entzücken daran, wenn ihr Innerstes durch obszöne Lieder aufgewühlt wird; sie berauschen sich masochistisch, wenn der Dichter - der nur allzu bereitwillig ist - sie mit erotischen Gesängen kitzelt, so dass sie nur noch verzückt „ohe!“ genug! rufen können. Solche Leute wollen behaupten, sie seien normal, wenn sie sich von diesen Dichterlingen zu derartigen Emotionen hinreissen lassen?18 Nicht gar so schlimm steht es mit dem kranken Alten, dessen Kreislauf es nicht mehr verträgt, wenn des Nachbars Töchterlein augenzwinkernd vorübergeht (III 109 f). Dagegen wirds der arme Chaerestratus (V 165 f) arg mitgenommen: er hat die ganze Nacht singend vor der Haustüre seiner geliebten Chrysis zugebracht. Und warum? Weil sein Verlangen nach ihr grösser war, als dass ihre abweisende Haltung ihn zum Rückzug veranlasst hätte. Und wenn der Leser dann noch annimmt, es seien Tränen gewesen,die die Schwelle nässten19, so kann er nur kopfschüttelnd feststellen: Dieser Chaerestratus ist nicht normal, wenn die Liebe ihn dermassen töricht handeln lässt. In der Tat, er selber ist nicht mehr das antreibende Moment seines Tuns: Wie der Verliebte bei Horaz (Sat. II 3, 259-264) richtet er sein Handeln nach dem aus, was seine Geliebte tut oder unterlässt. Von Unsicherheit gequält, fasst und entwirft er ständig neue Entschlüsse20, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Dieser Mann ist nicht mehr frei in seinen Entscheidungen, da jemand anders über seinen Willen verfügt. Sein Ende wird schrecklich sein: Wenn „die grauenhafte Begehrlichkeit wie siedendes Gift in sein Denken eingedrungen ist“ (nach III 36 f), gehört er zu den bedauernswerten Mehschen, die körperlich vollkommen zerrüttet sind: Die sexuellen Ausschweifungen haben ihn frühzeitig altern lassen (V 58), so wie andere ihre Gesundheit beim Würfeln und Trinken, wieder andere durch Ihre Fresssucht ruiniert haben.

avaritia

Nicht gar so übel ergeht es denen, die von der avaritia gepeinigt werden: Sie hinterlässt keine derartigen physischen Schäden, doch ist das Los der Geizkragen und Geldraffer nicht weniger bemitleidenswert. Sie werden von der avaritia nicht mehr freigegegeben: sie werden sie von ihr morgens dem Schlaf gerissen (V 152) und den ganzen Tag über gejagt: kein Augenblick bleibt ihnen vergönnt, um sich auszuruhen. Wenn die avari eine Kiste mit Gold sehen, werden sie nervös (II 53 f , III 109) oder blass (IV 47); ja, sie entblöden sich nicht, Unwissenheit vorzutäuschen, wenn es darum geht, das Ausmass des Reichtums anderer Leute zu erfahren (IV 25ff). Selbst dem eigenen Onkel wünschen sie den Tod, um ihn den Besitz der Erbschaft zu kommen (II 10). Sogar bei der Bestellung des Feldes - eine Tätigkeit, bei der doch nur indirekt der Gedanke auf Geld kommt, hoffen sie darauf, mit dem nächsten Schlag der Hacke eine Truhe gefüllt mit Gold zu treffen (II 11). Ihre Gedanken sind gefangen von der Gier nach Gold und von der Sucht, ihren Reichtum beisammenzuhalten: Für ihren Klienten ist der schäbigste Mantel noch gut genug (I 54). Sind diese Geschöpfe noch Herr ihrer selbst ? Oder sind nicht vielmehr Sklaven des Geldes ?

ambitio

Sind diejenigen zu beneiden, die nach Ruhm und Ehre streben? Sind es doch zwei Güter, die zu den höchsten gehörten, die die Römer kannten! Doch wie sieht der Weg dahin aus ? Wer als Dichter Ruhm erwerben will, muss sich nach dem Geschmack des S Publikums richten: und der ist genau so miserabel wie der Ruhm kurzlebig ist, den diese Zuhörerschaft zu vergeben hatf,. Doch jeder Dichter hofft, von den Späteren in einem Atemzuge mit Catull, Ovid und Vergil genannt zu werden. Um dieses Trugbildes willen dichtet er, was die Leute hören wollen (I 20, I 28-30). Es gibt nur wenige Poeten, die sich nicht um das Urteil der Masse scheren (I 48 f), die nicht dichten, um ein „Schön!“ oder „Apart!“ (I 49, I 84) gesagt zu bekommen. Bei den Politikern ist es ähnlich: Sie müssen Gelder21 und Getreide unters Volk bringen und mit grossartigen Spielen, die sie immense Summen kosten, sich in Schulden stürzen, damit sie bei den Konsulatswahlena auf die Stimmen der Massen rechnen können (V 177 ff). Sie sind gezwungen, jede Rolle zu spielen, die das Volk von ihnen verlangt, nur damit sie seine im übrigen wankende Gunst nicht verlieren; ständig schielen sie ängstlich auf die Stimmung der Massen: Selbst die Männer, die den Staat lenken, sind die Sklaven derjenigen, die sie regieren.
Alle diese Leute, ob sie nun von Leidenschaften, Geldgier oder Ehrgeiz ergriffen sind, werden gefangengehalten von der cupiditas: Sie lässt sie nicht zur Ruhe kommen, sie bestimmt ihren Tageslauf und Lebensweg. Da können sie sich noch so oft in die Brust werfen und behaupten: „Ich bin ein freier Römer!“, allzuweit her ist es mit ihrer Freiheit nicht: Knien sie doch im nächsten Augenblick flehend vor der Tür der Geliebten, redem dem alten Erbonkel nach dem Mund oder schmeicheln sichunterwürfig in die Gunst des Publikums ein. Wie kann ein solcher behaupten, er sei frei, wenn sein Denken und Sinnen von so vielen Herrschern gelenkt wird, wie z.B. Habgier, Begierden und anderen Dingen? Diese macht er ja selber zu seinen Herren22. Horaz prägt das Bild der Marionette: „Tu mihi qui imperitas, aliis servis miser, atque duceris ut nervis alienis mobile lignum.“23 Villeneuve sagt: „Les vrais maitres sont nos passions.“ (S. 299)
Die Gegendarstellung des Weisen fehlt bei Persius, wenn man die liebevolle Schilderung seines Meisters Cornutus nicht als eine solche werten will; sie ist auch nicht mehr unbedingt notwendig, da der Weise der Mann ist, der alle die erwähnten und noch folgenden Eigenschaften nicht nur nicht besitzt, sondern sie auch nicht anstrebt. Der Weise erkennt, dass die Leidenschaften zu den evitanda gehören, er zeichnet sich durch seine  / Leidenschaftslosigkeit aus. Zwar sind  / divitiae und / gloria zu den  zu rechnen, doch sind es immerhin noch  / res indifferentes, an die man sein Herz nicht hängen sollte; es ist schön, wenn man sie hat, doch sie sind es nicht wert, dass man die Unabhängigkeit aufgibt und in dem Streben nach Erkenntnis und Verwirklichung der arete, die die einzig wahre Freiheit verleiht, nachlässt. Wer nicht im Besitz dieser Erkenntnis ist, läuft den Wahrsagern nach, lässt sich vom Mummenschanz und der Geheimniskrämerei der Kybele- und Isispriester beeindrucken (V 179 bis 188), will die Neugeborenen mit allerlei Zauber vor Armut und Hässlichkeit schützen (II 31) und unternimmt nur dann etwas, wenn die Sterne oder die Eingeweide günstig sind, und auch dann nur das, was die Wahrsager ihm empfehlen.24

inertia

Andere, die den Weg der arete nicht kennen, führen ein zielloses Leben: Sie vermögen ihrem Dasein keinen Sinn zu geben, geben jeder Lust und Laune nach und halten es nirgends länger aus. „Die meisten jagt, kein sicheres Ziel verfolgend, unstete, unbeständige, sich selbst missfallende Unbeständigkeit von einem Plan zum anderen. Einigen gefällt gar nichts, worauf sie ihre Lebensweise richten könnten: matt -und gähnend werden sie vom Tod überfallen.“25 Ihre inertia, ihre Ziel- und Rastlosigkeit, ist Torheit. Jetzt kommt auch der zweite Teil des Paradoxon26 zur Geltung: Denn wie kann der Tor ein arete-gemässes Leben führen? „Celui qui n'a pas la sagesse, le stultus, ne sait pas vivre; ... L'homme, qui ignore l'art de vi vre, n'a pas le droit de dire >Il m'est permis de vivre comme j’e veux<„.27 Mit seiner Dummheit verpfuscht er sein Leben; nicht sein Wille, sondern irgendetwas anderes, vielleicht seine Unlust, ist der Motor seines Handelns. Nur allzu berechtigt fragt Persius: „Gibt es etwas, was du anstrebst und worauf du (ernsthaft) deinen Sinn richtest ? Oder jagst du wahllos den Raben ... nach ... und verlebst nur die Stunden?“ (III 60 ff).

Schluss

Die gezeigte Auswahl macht deutlich, wie ernst Persius die stoische Lehre von der individuellen Freiheit nimmt. Eigene Lehrsätze oder Definitionen entwickelt er nicht, vielmehr zeigt er nach der Art der Diatribe an einigen typischen Fällen die Unfreiheit der Menschen auf und hält seinen Zeitgenossen die Satiren als Spiegel vor Augen, in der Hoffnung, dass sie sich darin erkennen und versuchen, „in sich selbst hinabzusteigen“. (IV 23).

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1  Tranq., V, 4 f.

2 Dialogus 37,6; 41,3; ausserdem 13,4.

3 III, 74.

4 bell. Gall. III, 10.

5 Der Unterschied wird greifbar, wenn wir daran denken, dass ein Sklave ein „Freier“ / libertinus werden konnte, nach den heutigen Masstäben aber doch nicht frei war.

6 mit (Wickert 1949, 111).

7 Epp. ad Luc. 80, 4.

8 nach Cic. Parad. 34.

9 IV 1,2.

10 nach Cic. Parad. 34.

11 V, 104.

12 nach Cic. Parad. 34.

13 Cic. de fin. III 2,4: ars est enim philosophia vitae = Eine Wissenschaft ist nämlich die richtige Art zu leben.

14 Musonius p. 22,7 ff.

15 de aud. poet. 25 c

16 Das Gegenteil - der Sklave als der eigentlich freie Mensch - wird in der Literatur selten (Horaz Sat. II 7) behauptet, und wenn, dann nur, um die erste Behauptung in noch grellerem Licht erscheinen zu lassen.

17 II 1 f.

18 Juvenal greift dieses Motiv wieder auf in VI, 514.

19 (Conington/Nettleship 1893) erwägt es nach Ov. am. I 6,18 und Prop. I 16,4.

20 vgl. Catull c. 85 ; Villeneuve meint: „Les caprices des amants sont aussi déraisonables que ceux des enfants ... C’est proprement se mettre en devoir de delirer avec methode.“ (302)

21 Zum folgenden siehe auch: Bertolt Brecht, Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar.

22 nach (Jahn/Leo 1910, 51) zu V 129; vgl. Diog. Laert.VI 66; Epiktet II 1, 28; Cic. Parad. 35 f

23 Sat. II 7, 81 f; vgl. Marc Aurel X 38.

24 Cic. Parad. 41: „an non est omnis metus servitus?“

25 Seneca, de brevitate vitae.

26 zitiert von Cic. Parad.; in dieser Formulierung vielleicht schon von Zenon, vgl. (Arnim 1964, 53 f): Nr. 219, 222, 226.

27 (Villeneuve 1918, 294).