Der Mönch von Heisterbach

Eine Legende über die Relativität von Raum und Zeit



In dem waldverlorenen Kloster Heisterbach lebte einst ein Mönch, der war im ganzen Lande sehr berühmt wegen seiner großen Gelehrsamkeit. Keiner kannte so gut wie er die heilige Schrift. Auch trieb er andere Wissenschaften und suchte so alles zu erforschen, was Gott geoffenbart und geschaffen hat. Hierbei geriet er aber in Zweifel und dadurch wiederum in große Unruhe. Nichts wollte mehr vor ihm Bestand haben, was er je als Wahrheit gläubig hingenommen hatte. Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. Schon war es soweit. dass er bisweilen selbst an Gott zu zweifeln begann.

Da sagte eines Tages sein Abt, der nicht allzuviel von aller Gelehrsamkeit hielt und ein gar frommer Mann war, gutmütig spottend und gleichzeitig doch warnend zu ihm: "Bruder, es gibt soviel des Wissens, das der Seele ganz undienlich ist; und alles Wissen macht noch längst nicht weise". Dann fügte er ernst noch hinzu, indem er ein heiliges Wort leicht veränderte: "Was nützte es dir denn, wenn du die ganze Welt begriffest und dabei Schaden littest an deiner Seele?" Diese Worte machten den Mönch betroffen. Zwar dachte er gleich darauf mit einigem Trotz: "Was weiß denn dieser Einfältige von der Süsse des Wissens und von der rechten Wahrheit?!" Da aber erkannte er, dass die Hoffart der Gelehrten, die den Weisen unbekannt ist, schon Besitz von ihm genommen hatte. Sogleich suchte er die rechte Demut wieder zurückzugewinnen. Auch betete er vergeblich: "Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben!" Er war verstört. Die reine Einfalt des rechten Glaubens, dieses unwissende Vertrauen auf Gott, wollte sich nicht mehr einstellen.

Fortan war er wie in die Wüste des Grübelns und Zweifels gebannt. So manches Wort der Heiligen Schrift ward ihm zu einem Rätsel, dessen Unerforschlichkeit seine Seele zerriss. Da kasteite er sich und rief den Heiligen Geist an und bat Gott Tag um Tag, dass er ihn doch in den stillen Bereich der heiligen Schau und des unerschütterlichen Glaubens zurückkommen lasse. Doch Gott schien ihn nicht erhören zu wollen. Voller Unrast blieb er und begriff nun wohl, dass jenen der Himmel gehört, die arm im Geiste sind. Um diese Zeit las er wieder einmal im Psalm die Worte: "Tausend Jahre sind vor Gott wie ein Tag". Schon wollte er Ja dazu sagen und es nicht anders hinnehmen, als wie es da geschrieben stand. Dann aber fuhr der Zweifel in ihn, gleich einem verheerenden Sturmwind. Denn: "Wie kann die Zeit vor Gott in Nichts zergehen?!", so fragte er sich und fand keine Antwort darauf. Grübelnd trat er aus seiner Zelle in den Kreuzgang und dann ins Freie hinaus. Den Klostergarten durchmessend, sann er angestrengt über das Wesen der Zeit nach und wie sich dieses zu Gottes eigenem Wesen verhält. Auch stieß er dabei auf jenes andere Rätsel, was denn der Raum ist. Und Gott, der auf alles achtet und dessen liebste Söhne vielleicht gerade jene sind, die sich so schwermütig forschend in der ungeheuren Welt seiner Rätsel verlieren, um endlich innehaltend das bittere Heimweh zu spüren, aus der unbegreiflichen Welt der Geheimnisse zurück in das bergende Vaterhaus -, Gott also lächelte jetzt wohl und führte den ratlosen Sohn zugleich in die Zeit - wie in die Ratlosigkeit. Es rauschte der Wald, von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne hoch in den Wipfeln verklärt.

Dann sang da plötzlich ein unbekannter Vogel auf und jubilierte so herrlich, dass der grübelnde Mönch aus seinen Gedanken gelockt wurde und sich verwundert fragte, welcher denn von allen heimischen Vögeln so unerhört schön zu singen vermöchte. Wie von dem erstaunlichen Getön zauberisch angezogen, trat der Wissbegierige in den hohen Buchenwald und sah hier den soeben auffliegenden und leicht entschwebenden Vogel, der nicht viel grösser als eine Taube war und in allen Farben des Regenbogens schimmerte.

Noch viel neugieriger geworden, schritt der Mönch schnell dem wunderlichen Sänger nach, der sich unweit wieder niedergelassen hatte und von neuem zu flöten und zu quinquilieren begann. Laut schmetterte sein Stimme jetzt, um gleich darauf die innigste und betörendste Weise zu finden. Dann schwebte er wieder auf traumbunten Schwingen herab und mit einer flinken Wendung tiefer in den verdämmernden Wald hinein. Der Mönch folgte und folgte. Wo er sich befand, wusste er schon gar nicht mehr. Da und dort blieb er stehen, um zu lauschen. Sein Herz war voller Sehnsucht und gleichzeitig doch so beseligt, als gäbe es gar nichts mehr, wonach ihn verlangen könnte. Alle Unsal der verstrichenen Monde und Jahre schien von ihm gewichen zu sein. Auf einem Baumstumpf sitzend und die Stirn in die Hände gestützt, schloss er ruhig atmend die Augen, indes der Vogel jetzt über ihm in den Wipfeln verharrte und alle Freude der Welt auf ihn hernieder sang.

Plötzlich aber brach das Lied ab. Der schlafende Mönch merkte nichts davon. Dann sprang er jäh empor; denn es war ihm, als habe eine Schwinge sein bloßes Haupt berührt. "Es ist Zeit, zurückzugehen", sagte er sich in der ersten Verwirrung. "Was war da soeben? Er wusste es nicht mehr. Habe ich nicht einem Vogel gelauscht? Folgte ich ihm nicht tief in den Wald hinein?" Lächelnd schüttelte der über sich selbst Verwunderte den Kopf und schritt dann zum Kloster zurück.

Doch indem er dessen Garten betrat, schien ihm, als sei hier manches verändert. Sich erstaunt umschauend, vermeinte er geradezu, in einer fremden Umgebung zu sein. Gebäude standen da, die er nie gesehen hatte. Zugleich fiel sein Blick zwar auch auf die altvertraute Klosterkirche mit ihrem zierlichen Dachreiter, auf den Kreuzgang und auf das Kloster selbst. Da war nichts verändert. Oder doch? Jenen Anbau links an der Meierei zum Beispiel kannte er nicht. Auch war ihm dies und jenes ganz ungewohnt. Bestürzt blickte der Zurückgekehrte hierhin und dorthin und wandte sich dann einem Bruder zu, der nahebei vor einem Gemüsebeet stand und das Unkraut ausjätete. "Bruder, was ist hier geschehen, und wie hat sich hier alles verändert?", fragte er, immer noch ganz verwundert. Da bekam er lachend zur Antwort: "Vater, ihr irrt. ich bin doch schon fast zwanzig Jahre hier im Kloster und wusste nichts Sonderliches, was derweil anders geworden sein sollte. Doch wo kommt ihr her?" - Der Mönch stand wie erstarrt. "Weshalb nennst du mich Vater?, fragte er dann. Ich bin doch kaum halb so alt wie du". - "Halb so alt?", machte der andere ein verdutztes Gesicht. "Ihr mit Eurem schneeweißen Haar?!" - Bei diesen Worten entsetzte sich der nun völlig Ratlose. Gleichzeitig spürte er eine sonderbare Müdigkeit in den Gliedern "Was geht mit mir vor?", forschte er in sich hinein - und schritt dann, wie auf der Flucht, schnell zur Kirche hin, die er in wahrer Todesangst betrat.

Hier fand er alle Brüder beim Gebet. Doch keinen davon kannte er. Sich an seinen gewohnten Platz begebend, fand er diesen besetzt. Unschlüssig blickte er sich um. Ja es war ihm wie in einem bösen Traum zumute. Da trat der Abt unwillig zu ihm hin und fragte: Fremder, was ist mit dir, und warum wartest du nicht, bis unser Gebet beendet ist? - Fremder? Dieses Wort traf ihn noch ärger als alles andere zuvor. Ich gehöre doch hierher!, schrie er auf. Wo ist mein Abt Albertus, und wo sind meine Brüder, mit denen ich noch vor Stunden hier gebetet habe?

Alle schauten so befremdet auf den Mönch, als spräche er etwas durchaus Unverständliches. Dann erkundigte man sich, wie er heiße und woher er komme. Und man begriff ihn nicht, als er antwortete, dass er Ivo heiße und im gleichen Jahr hier zu Heisterbach ins Kloster eingetreten sei, als Engelbert von Berg Erzbischof von Köln wurde . Das sind dreihundert Jahre her, sagte ungläubig der Abt und machte dazu ein Gesicht, als meinte er, einem Verrückten gegenüberzustehen. Da aber trat ein weiterer Mönch hinzu und sprach: Nanntest Du dich soeben nicht Ivo? In den Annalen unseres Klosters steht vermerkt, dass ein Mönch dieses Namens zu Engelberts Zeiten hier im Kloster lebte Er soll sehr gelehrt, doch ein Zweifler gewesen sein. Eines Tages verschwand er im Walde und kehrte nie mehr zurück.

Wie vom Blitz getroffen, stand da Ivo. Plötzlich begriff er alles. Denn tausend Jahre sind dir wie ein Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache erklang es in ihm Mit schimmernden Augen, aus denen Tränen rannen, blickte er die Brüder alle an. Dann begann er mit zitternder Stimme zu erzählen, wie er bei all seinem gelehrten Forschen zum Zweifler geworden war und wie Gott ihn in die Zeitlosigkeit geführt hatte, um ihn erst jetzt wieder daraus zurückkehren zu lassen. Pater Ivo brach vor dem Altar auf die Knie nieder und stammelte: Ein Wunder hast Du, o Herr, an mir getan. Sei gepriesen in Ewigkeit! Eine unsagbare Seligkeit erfüllte sein Herz. Und indem die anwesenden Mönche noch erstaunt auf ihn blickten und nicht wussten, was sie von alledem denken sollten, sank er plötzlich nach vorn auf sein Gesicht, streckte wie zum demütigen Gebet langsam die Arme aus - und verschied.


Quelle: Goswin Peter Gath: Rheinische Legenden, Seiten 178-181, Greven Verlag, Köln 1955. Die Legende wurde mir freundlicherweise von Pater Martin Stock, Bibliothekar im Zisterzienser-Kloster Himmerod, 54534 Grosslittgen/Südeifel überlassen. Günther W. Frank Genossensch.-Str. 10 75217 Birkenfeld im Schwarzwald