1939 Am Ende: Selbstmord

Sommer 1939: Er war ein Bilderbuchsommer, warm, sonnig, so als ob er den Deutschen zum letzten Mal unbeschwerte Ferien gönnen wollte. Dabei ahnten viele, dass Krieg bevorstand; die Stimmung in Deutschland war gedrückt, kein Jubel wie 1914. Zwei junge Menschen hatten ganz andere Sorgen: Sie sahen sich in einer ausweglosen Situation und nahmen sich deswegen das Leben: Ilse Fröhlich und Rudolf M.

ilse

Bereits 1985 war im General-Anzeiger Bonn, Ausgabe Rhein-Sieg, zum ersten Mal über die beiden berichtet worden - allerdings nur ansatzweise, weil die Behörden der DDR damals jegliche Auskünfte verweigert hatten. Nach über 60 Jahren wurde 2003 zum ersten Mal ihr Tod historisch dokumentiert. Im Jahre 2007 wurde Ilses Abschiedsbrief dem Stadtmuseum Siegburg übergeben. In 2012 wurden Akten in den Archiven des Gymnasiums Alleestrasse (Siegburg) und des Clara-Schumann-Gymnasiums (Bonn) entdeckt.

Ilse ist 1919 in Bonn-Dottendorf geboren und wohnt in der Kaiserstrasse 20. Ihre Eltern sind jüdischen Glaubens; die Mutter ist vier Tage nach Ilses Geburt gestorben. Von 1928 bis 1931 besucht Ilse das Städtische Lyzeum in Siegburg, ebenso wie die jüdischen Mädchen Friedel Friedländer (Südstrasse) und Margot Marcus (Kaiserstrasse). Ihre Mitschülerin Hildegard Br. aus Hennef erinnert sich 2012 daran, dass die drei akzeptiert waren; sie kamen auch am Samstag, dem Schabbat, in die Schule. 1931 wechselten Ilse und Hildegard auf die „Städtische Studienanstalt“ (heute: Clara-Schumann-Gymnasium, CSG) in Bonn, weil dort Latein – Voraussetzung für Abitur und Studium - gelehrt wurde. Ihr Klassenlehrer war ein eindeutiger Nazi; ein anderer Lehrer, Dr. Spahn für Latein und Geschichte, war deutsch-national. Ilse nimmt am Gymnasium am jüdischen Religionsunterricht teil, Rabbi Seligsohn erteilt ihr 1936 (Unterprima) die Note „gut“. Da muss die Jüdin Ilse nach den NS-Gesetzen schon die Schule verlassen; sie tritt eine Lehre in einem Kölner Bankhaus an. zeugnis
kaserne
(Kaserne im Jahr 2003,
heute Landesarchiv)
swinemünde
Swinemünde 1937
(Bundesarchiv)
Rudolf ist 1915 in Bonn geboren und wohnt zuletzt in der Vorgebirgsstrasse. Sein Vater ist Jude, seine Mutter ist katholisch; er selbst ist katholisch. Wie und wo und - vor allem - wann die beiden sich kennengelernt haben, ist unbekannt. Sie verlieben sich. 1937 wird Rudolf zur Wehrmacht eingezogen und nach Stralsund, später nach Greifswald zur 10. Kompanie des 92. Infanterieregiments versetzt.

Die Liebesbeziehung der beiden ist unter Strafe gestellt: Nach den sogenannten Nürnberger Gesetzen von 1935 ist sowohl eine Heirat als auch „ausserehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen ... Blutes verboten.“ Die beiden jungen Menschen müssen verzweifelt gewesen sein, sie haben keine gemeinsame Zukunft. Deswegen fährt Ilse nach Greifswald und trifft sich mit Rudolf.

Beide fahren mit der Eisenbahn nach Bad Heringsdorf, dem mondänen Ostseebad auf der Insel Usedom, eine Sommerfrische schon für preussische Prinzen und Könige. Sie wohnen in der Pension Hubertus in der Wilhelmstrasse 15 (heute: Friedenstrasse 15).

bahnhof

Am Abend schreibt Ilse einen Brief an Ihren Vater und an seine Mitarbeiterin, Frau Degen:

brief

Lieber Vater, liebe Degen!

Wenn Ihr diesen Brief bekommt, dann haben Rudi und ich uns erschossen. Trotz aller Schwierigkeiten sind wir zusammen gekommen. Ich danke Euch von ganzem, ganzem Herzen für alles, was Ihr für mich getan habt, denn mehr konntet Ihr wirklich nicht tun u. ich bin Euch so dankbar, denn Ihr habt mich sorglos leben lassen. Es ist alles Schicksal u. Bestimmung. Sicher, ich hab Euch viel Kummer gemacht, aber ich konnte nicht gegen mein Herz an. Vergesst den Schmerz u. all das, was ich Euch antue u. denkt daran, dass wir jetzt glücklich sind.

Meine letzte Bitte ist nur, dass ihr Rudi und mich zusammen in ein Grab legt, wir können ja hier beerdigt werden. Ich flehe Euch an, erfüllt mir diese Bitte, damit ich wenigstens im Tode Ruhe habe. Meine Sachen sind in Bad Heringsdorf in Pension Hubertus Zimmer 29. In Worten kann ich Euch meine Dankbarkeit für Eure Liebe nicht ausdrücken, denn Ihr habt ja mein Bestes gewollt. Ich grüsse und küsse Euch zum letzten Mal.

Eure Ilse

Ilse wirft den Brief noch am Abend oder in der Nacht in den Briefkasten. Die Nacht vom 12. auf den 13. Juni 1939 verbringen sie möglicherweise am Strand.

Am Morgen des 13. Juni, gegen 6 Uhr, wird der Gendarmeriemeister B. an den Strand von Ahlbeck gerufen: In einem Strandkorb in Höhe des Hauses Dünenstrasse 41 liegen zwei Leichen.

Als der Polizist näher an den Strandkorb herantritt, sieht er eine Frau (Ilse Fröhlich) mit Schussverletzungen an Kopf und „Bauch“, wie er später beim Standesamt ungenau sagt. Der Mann (Rudolf M.) hat auch eine Schussverletzung am Kopf - er gibt „noch schwache Lebenszeichen von sich“. Der herbeigerufene Arzt Dr. Güthenke stellt den Tod der Frau fest und ordnet an, den Mann in ein Krankenhaus zu bringen; er wird, als sich aus den Papieren ergibt, dass er Soldat ist, mit einem Sanitätskraftwagen in das Marinestandortlazarett Swinemünde gefahren. Der Polizist findet in der Hand des Rudolf eine Pistole ausländischen Fabrikats. Nach einem Blick in das Magazin ist für ihn klar: Rudolf hat zuerst zweimal auf Ilse geschossen: in den Kopf und in das Herz, dann sich selbst die Pistole an die rechte Schläfe gehalten und abgedrückt. Ilses Pistole war unbenutzt. düne

Gendarmeriemeister B. hält in seinem Bericht an den Landrat fest: „Es ist anzunehmen, dass beide freiwillig aus dem Leben scheiden wollten, weil sie umarmend im Strandkorb vorgefunden wurden.“ Aus den Papieren, die Ilse und Rudolf bei sich haben, gehen ihre Identität und ihre Adressen hervor - allerdings unvollständig.

kennkarte Denn Ilse hat nicht ihre sogenannte „Kennkarte“ bei sich, die ihr in Siegburg am 27. März 1939 (Nr. A 00015) ausgestellt worden war und aus der hervorging, dass sie Jüdin ist: In der Kennkarte ist erstens der Buchstabe „J“ gross eingedruckt war, und zweitens ist darin der den jüdischen Frauen aufgezwungene zusätzliche Vorname „Sara“ eingetragen. Was Ilse statt dessen an Ausweisen oder ähnlichem bei sich gehabt hat, ist nicht mehr feststellbar, vermutlich ihren Reisepass Nr.125, ausgestellt in Siegburg im Jahre 1934, also noch ohne das diskriminierende „J“.

All das weiss Gendarmeriemeister B. nicht, und so wird im Sterbebuchdes Standesamtes Ahlbeck auch nur eingetragen „Ilse Fröhlich“. Noch während der Polizist seinen Bericht an den Landrat schreibt, wird vom Krankenhaus in Swinemünde telefonisch mitgeteilt, dass Rudolf um 8:50 Uhr verstorben ist.

Die Leichen werden später ins Rheinland überführt: Ilse wird auf dem jüdischen Friedhof

in Siegburg beigesetzt, Rudolf auf dem Bonner Nordfriedhof in einem Reihengrab,

das nach 15 Jahren eingeebnet wurde.

Im Siegburger Einwohnermeldeamt trägt ein Mitarbeiter in der Meldekarte ein:

„Lt. Telegramm der Ortspolizeibehörde Ahlbeck/Ostsee v. 13.6.39 dort erschossen aufgefunden worden.“

grab

Das Schicksal von Rudolfs Vater ist vorläufig unbekannt. Ilses Vater wurde zusammen mit zahlreichen anderen Siegburger und Troisdorfer Juden am 24. Juli 1942 gegen Mittag in Maly Trostinez bei Minsk (Weissrussland) von der SS erschossen. Zu seiner Person wird auf der Siegburger Meldekarte eingetragen: „18.7.42 nach unbekannt Osten abgeschoben“.

stolperstein

Im Dezember 2008 wird für Ilse Fröhlich ein Stolperstein
vor dem Haus Kaiserstrasse 20 verlegt:

Epilog: Die Recherchen (seit 1983) haben unterstützt Carola Stern †, das Stadtarchiv Bonn, die Standes- und Meldeämter von Bonn und Ahlbeck/Heringsdorf, das Stadtmuseum Siegburg, das Landesarchiv in Greifswald, die Archive des Gymnasiums Alleestrasse in Siegburg und des Clara-Schumann-Gymnasiums in Bonn. Dank vor allem an Frau Karola Metzger † (geb. Bernauer), die Anfang der 80er Jahre die Nachforschungen nach ihrer Mitschülerin angestossen hat. Dieser Text – in der damaligen Fassung - ist veröffentlicht worden 2003 im General-Anzeiger Bonn/Rhein-Sieg und in der Ostseezeitung Greifswald; das Ereignis wird erwähnt in: Werner Biermann: Sommer 1939. Berlin (Rowohlt) 2009, rezensiert in der FAZ Nr. 203 vom 02.09.2009.

ga GA vom 9.11.1985
GA GA vom 12.09.03
oz OZ vom 17.09.03
rsr RSR vom 29.11.12
zeugnisliste der ilse fröhlich 1931 GA 30.11.12
stolperstein 2008 GA 08.12.08
lokalzeit
Lokalzeit Bonn des
WDR am 27.01.2022
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